Uraufführung des Tanzstücks »Siddhartha« im TiL - Gießener Allgemeine Zeitung

22.05.2013

»Siddhartha« als Tanzstück – das macht neugierig, das lässt nicht nur Tanzfans zur TiL-Studiobühne strömen.
 

Nach wie vor wird Hermann Hesses Roman von der Jugend gelesen, gehört mittlerweile auch zum Lektürekanon des Schulunterrichts und wird zu den »Entwicklungsromanen« gezählt wie die anderen seiner Romane auch. Doch beim erneuten Lesen nach gut 35 Jahren fällt auf, dass Hesses »indische Dichtung« zwar ausführlich vom Suchen der Jugend nach dem Sinn des Lebens erzählt, mindestens zur Hälfte aber vom Verlust dieser Sinnsuche beim Älterwerden. Von der Stagnation und der Trauer darüber. Von dem Versuch, es im Alter vielleicht doch noch zu ändern. Oder, wie es im Programmheft heißt: »Einer, der sich nicht einfügte und sich nicht zufrieden gab, aber alles erleben musste, um endlich frei zu sein.«

An das Thema assoziativ herangewagt haben sich Tarek Assam, Direktor der Tanzcompagnie Gießen (TCG), und Gastchoreograf Mirko Hecktor (München), der schon an »Dickhäuter« und »Welt der Engel« beteiligt war. Auch in diesem Jahr wurde mit der Uraufführung auf der TiL-Studiobühne das Festival TanzArt ostwest eröffnet. Und um es vorweg zu nehmen: Es ist ein Stück, das vor Lebensfreude nur so sprüht, und es kam beim mehrheitlich jungen Publikum super gut an. Der Applaus mit Klatschen, Johlen und Trampeln wollte kein Ende nehmen, das TiL bebte geradezu.
 
In der Fokussierung auf das Leitmotiv Wasser (= Fluss), sind wunderbare Bilder entstanden, die einerseits von der Schlichtheit des Bühnenbilds getragen werden, an-dererseits vom überaus engagierten Einsatz der TCG-Mitglieder leben. Imme Kachel hat als Hintergrund transparente Duschvorhänge gewählt, die von Kalkspuren überzogen sind. In das Fass auf der linken Seite der Bühne rinnt stetig Wasser von oben, bis es zum Überlaufen kommt. Erstaunlich, was Bühnentechnik leisten kann: Der Boden ist so gut abgedichtet, dass das Wasser am Ende fast knöchelhoch steht und eine zauberhafte Rutschchoreografie vorgeführt wird. Natürlich gibt es auch heftige Spritzer. Die drei Tänzer (Michael Bronczkowski, Sven Krautwurst, Manuel Wahlen) und drei Tänzerinnen (Yuki Kobayashi, Mamiko Sakurai, Magdalena Stoyanova) tragen sommerleichte, transparente Kleidung, die sie am Ende durchnässt ausziehen; bis auf die hautfarbene Unterwäsche. Neben dem Licht gestalten Videoeinspielungen die Atmosphäre mit. Die Choreografen höchstselbst erscheinen darauf, um mit exotischem Brimborium geschmückt Weisheiten zu verkünden. Vor allem die, dass Harmonie kein Gesetz, sondern ein Wunder, also ein höchst seltenes Ereignis sei. Das wird wie ein Mantra wiederholt.

In der Romanvorlage ist die Suche nach innerer Freiheit an entscheidender Stelle durch das »Om« geleitet, also spielt das »Om« im Tanzstück auch eine wichtige Rolle. Durch perfekte Rhythmisierung beim Sprechen in der Gruppe, vor allem aber durch ironische Brechung. Wenn der Schweizer Manuel Wahlen im hessisch (!) gefärbten Therapeutengesäusel die Gruppentherapiesitzung befriedet, dann ist das einfach nur komisch. Und dass wir schließlich alle »Hesse« sind, das fällt einem dann wie Schuppen von den Augen.

Der deutsch-amerikanische Tänzer Michael Bronczkowski singt und spricht in seinen beiden Sprachen, versucht Ordnung in das Geschichtenchaos zu bringen. Schließlich wird Gobinda in dem James-Bond-Film »Octopussy« mit »B« geschrieben, während Govinda der Jugendfreund von Siddhartha ist und mit »V« geschrieben wird. Auch wenn beide Geschichten in Indien spielen, es bei beiden um viel Sex und dem Suchen-nach-etwas geht, sollte das doch geklärt sein. Da steht »Om« gegen »007«.

Die Musik ist eine Mischung aus der Eigenproduktion »Body on stone«, Geräusche, die beim Aufprallen der Tänzerkörper auf Wände entstanden, psychedelischen Einlagen und hartem E-Gitarrensound am Ende.

Die TCG-Mitglieder sind ebenso präzise im Tanz wie ausdruckstark in der Darstellung. Dabei zeigen die Akteure unglaublichen, auch risikoreichen Körpereinsatz. Am Beginn steht die verzweifelte Suche, dargestellt durch die Mimik des Schreiens, dann bricht einer aus und das ist über weite Strecken Sven Krautwurst als Siddhartha. Letztlich aber sind sie alle Ewigsuchende. In der Liebesszene überrascht Yuki Kobayashi als Kurtisane Kamala, in der Wir-finden-den-Fluß-des-Lebens-Szene begeistert Magdalena Stoyanova mit ihrem schlangengleichen Tanz rund ums Wasserfass. Und so wie der Fluss das »Om« in sich birgt, also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, so sind alle gezwungen, das Rad des Lebens von Neuem zu erfahren. Am Ende wandern sie wieder hinter den Vorhängen auf und ab, wie zu Beginn.

Weitere Vorstellungen im TiL gibt es am 31. Mai und 9. Juni, dann erst wieder in der neuen Saison.

Dagmar Klein, 18.05.2013, Gießener Allgemeine Zeitung