Stadttheater Giessen
    ALT

    - Am liebsten erinnere ich mich an die Zukunft -
    Salvador Dalí

    Cathérine Miville

    Hundert Jahre alt. Tatsache, Behauptung und Grund zum Feiern.
    Vor hundert Jahren ermöglichten Gießener Bürgerinnen und Bürger den Bau des Stadttheaters; das -Denkmal bürgerlichen Gemeinsinns- entstand also durch eine Bürger-Initiative. Hundert Jahre Theatergeschichte(n) sind seither geschrieben, untrennbar mit Stadt-, Landes- und Welt-Geschehen verbunden. Auf der Bühne haben ganze Künstlergenerationen berührt, amüsiert, belehrt, irritiert und fasziniert; unzählige Sänger, Schauspieler, Tänzer, Musiker, Dirigenten, Regisseure und Ausstatter setzten Zeichen - stehen für die extreme Wandelbarkeit der Kunst bei aller Kontinuität der Institution. Nicht zu vergessen die Menschen, die neugierig, interessiert und kritisch das Gießener Theatergeschehen begleitet haben und natürlich auch die, die ihm seine finanzielle Basis bereitetet und es dadurch erst möglich gemacht haben. Feiern wollen wir unseren runden Geburtstag, zurückschauen, Bestandsaufnahmen wagen, aber vor allem Visionen für die kommenden hundert Jahre entwickeln.

    Hundert Jahre alt. Viel älter sind zumeist die Themen und Stoffe, die wir täglich verhandeln - doch wir haben die wunderbare Chance, sie in die Gegenwart zu holen, aus ihnen manchmal sogar Zukunftsmusik zu machen. Spannend auch, dem -Alten- etwas Neues hinzuzufügen, es mit Zeitgenössischem zu konfrontieren, die Grenzen zwischen Tradition und Moderne, zwischen alt und neu aufzuheben.

    Hundert Jahre alt. Grund für uns, drei Buchstaben in den Fokus zu nehmen: ALT.
    Was bedeutet Alt-Sein in einer Gesellschaft, die trotz stetig steigender Lebenserwartung Jung-Sein zum Kult erklärt, sich nun, da ihr Überalterung droht - paradoxerweise - ewiger Jugendlichkeit verschreibt, und in ihrem Jugendwahn(sinn) ihre eigene Entwicklung vollkommen zu ignorieren scheint? Was bedeutet Alt-Sein für eine Gesellschaft die Alter nicht mit Weisheit und Tradition, sondern mit Verfall, Senilität und Morbidität verbindet?

    Hundert Jahre alt. Uns interessiert das Relative an ALT: Ist ein Theater mit 100 Jahren eine altehrwürdige Institution mit Tradition oder ein uralter Knochen in einer trendigen, schnelllebigen Zeit? - Und ist hundert Jahre für ein denkmalgeschütztes Gebäude nicht vergleichsweise jung?

    Hundert Jahre alt. Ein Alter, das uns die Wissenschaft in gar nicht so ferner Zukunft auch für Menschen als möglichen Standart androht oder verspricht. Zu welchem Preis? Gilt doch ein Studierender heute mit Mitte zwanzig als alt, ein Fünfjähriger muss schauen, dass er - bevor er zu alt wird - flugs vom Kindergarten in die Schule kommt, und ein Arbeitsuchender ist mit Mitte dreißig für gewisse Aufgaben schon schwer vermittelbar. Dennoch sollen wir aber künftig alle bis ins hohe Alter arbeiten.

    Die drei Buchstaben ALT werfen Fragen auf, die uns in die Pflicht nehmen. Wir wollen in unserer Jubiläumsspielzeit über Alter nachdenken, Begegnungen der Generationen möglich machen und Brücken schlagen zu Zukunftsvisionen.

    Hundert Jahre ALT - ein guter Grund, mutig und selbstbewusst nach vorne zu schauen. Lassen Sie es uns gemeinsam tun. Ich freue mich darauf.

    Ihre Cathérine Miville | Intendantin