Eine neue, aufsehenerregende Lulu-Darstellerin in einer rundum gelungenen Produktion - Der Opernfreund

06.06.2012

LULU

Alexandra Samouilidou, eine neue, aufsehenerregende Lulu-Darstellerin in einer rundum gelungenen Produktion

Lulu ist eineinhalb Jahre nach Alban Bergs Tod in der Torso-Version 1937 in Zürich uraufgeführt worden. Im Programmheft des Stadttheaters Gießen wird angesichts der Uraufführung dieser neuen Lulu-Version in einem kleinen Artikel die Frage thematisiert, ob es nicht einem Sakrileg gleichkommt, an ein so großes unvollendetes Werk wie die Lulu noch einmal die Hand anzulegen. Helene Berg, die Witwe des Komponisten, hatte das immerhin Schönberg, Webern und Zemlinsky angetragen – vergeblich. Dann hatte sie allerdings dekretiert, dass an dem Werk nichts mehr geändert werden dürfe. Aber kurz vor ihrem Tode listete ihr Rolf Liebermann die Zustimmung zu einer Vollendung des Stücks durch Friedrich Cerha ab. 1979 kam es im Palais Garnier zu der vielbeachteten Uraufführung des vervollständigten Werks, das seither in der Opéra immer im Repertoire verblieben ist und in der ersten Inszenierung von Patrice Chéreau zu so etwas wie einer Referenzinszenierung geworden ist. Heute ist die Cerha-Fassung diejenige, die überwiegend gespielt wird und die sicher zur Beliebtheit des Werks wesentlich beigetragen hat. Im Blick auf den Ablauf der Schutzfrist haben sich nun auch andere Autoren dem Werk wieder zugewandt. Allen voran Eberhard Kloke, der einerseits eine ganze neue Version des dritten Akts vorgelegt hat, die 2010 in Kopenhagen/Oslo aus der Taufe gehoben (wir berichteten aus Kopenhagen) mittlerweile schon einige Male nachgespielt worden ist. Die Staatsoper Unter den Linden legte in dieser Spielzeit eine umstrittene Inszenierung einen neuen dritten Akt in der Orchestrierung von David Robert Coleman vor (Auch hiervon berichtete de Opernfreund). Kommen nun lauter neue Lulus – so wie jeder Monteverdi jeweils „neu“ instrumentiert ist?
Eberhard Kloke hat sich bei der Bearbeitung des dritten Akts nicht streng an das Particell von Alban Berg gehalten, weil er es (aus der Sicht von Berg) nicht für definitiv hielt. So hat er beide Bilder gekürzt (das Paris-Bild stärker), größere Sprechstellen eingeführt, verschiedene Varianten zugelassen und ein Akkordeon eingesetzt, das einige Passagen begleitet wie Bänkelgesang. Parallel dazu hat Kloke die ganze Partitur für „Kammerorchester“ umgeschrieben, wodurch die Oper auch für kleinere Häuser aufführbar wird.
Der Regisseur Thomas Oliver Niehaus folgt in seiner Inszenierung der seit Chéreau geläufig gewordenen Lesart: Nicht Lulu ist pervers, sondern ihre Umgebung, bebildert das aber in origineller neuer Weise. Die „Schlangenbeschwörung“ im Prolog findet vor dem Vorhang statt. Zu jedem exotischen Tier, das da betrommelt wird, begrüßt der Zirkusdirektor eine der Männergestalten aus der Geschichte, die dann als Gruppe an der linken Bühnenseite auf einem kleinen Podest verbleiben. Zu Ihnen gesellen sich aber auch schon die Geschwitz und die Garderobiere; alle in schwarzen Kostümen. Zum Schluss wird die Schlange thematisiert; der Vorhang öffnet sich; man sieht einen in Weiß, Grau und Schwarz gehaltenen hinten halbrunden Bühnenraum (Ausstattung: Lukas Noll), in dessen Mitte sich Lulu auf einem runden Podest mit drei Stufen an einer Stange festhält. Dahinter stehen noch ein Zebra und von der Bühnenmitte bis hinten in fast geometrischem Muster eine Reihe von Konturen: gesichtslose Pappkameraden in Weiß oder Schwarz. Die herbeigerufenen Männer schwärmen aus und beginnen das Spiel um Lulu, das Objekt ihrer Begierde. Sie bleiben während des ganzen Abends omnipräsent auf der Bühne, auch die bereits Toten, die ja auch in anderer Gestalt wieder benötigt werden. Dieses Septett tritt wie eine Gruppe von Stalkern auf, die Lulu nicht in Ruhe lassen. Obwohl die bezaubernde Lulu mit diesen Typen immer wieder irgendwie fertig wird, wird doch klar, dass sie von jüngster Jugend an ein Opfer dieser Männer gewesen ist, vor allem aber des Schigolch und auch des Dr. Schön, selbst wenn sie ihm gegenüber in die Täterrolle überwechselt. Später steht auf dem erhöhten Podest ein weißes Sofa als Symbol für Schöns Salon: das ist alles! Die ganze Mischpoke kann sich an der Seite, im Boden oder aber hinter einem der Pappkameraden verstecken, als Dr. Schön durchdreht.
Das ganze Geschehen wird teilnahmslos von der anonymen und gesichtslosen Menge der Pappkameraden beobachtet, die mal in Weiß und mal in Schwarz gestaffelt auf der Bühne stehen und es einen nicht wohl ums Herz werden lassen. Das ist die Masse der gefühllosen Gaffer, denen es gar nicht heftig genug zugehen kann. Andrerseits entspricht es dem Heile-Welt-Wunschbild dieser Menge entspricht es wohl, dass immer irgendeine der weiblichen Gestalten in einem Hochzeitskleid herumspringt. Die Regie stellt kaltherzig Zahlenschilder für die Zahl der Toten in diesem Stück auf; auch die Toten außerhalb der Szene (z.B. der Athlet, dem es ja der Schigolch „besorgt“) werden mitgezählt: viele kommen an Lulu um, zuletzt sie selber. Niehaus gestaltet den ganzen Ablauf stringent, in sich geschlossen mit überzeugender Personenführung und schafft szenische Glaubwürdigkeit mit einfachsten Mitteln. Sein Ausstatter hat dazu passend zum Zebra fast alles in Schwarz, Weiß und Grau gehalten, bis auf die lächerlich Jacke des Marquis oder auch das rote Halstuch des Alwa und natürlich in der Salonszene ein prächtiges Kostüm der Lulu, deren Darstellerin zudem nicht wenig zu tun hat, sich dauernd umzuziehen. In der Filmsequenz im zweiten Akt werden die Männergesichter gezeigt, wie sei ineinander übergehen: für Lulu sind sie alle gleich. Trotz der einfachen Kostümierung sind alle Darsteller mit gerade ein paar Kleinigkeiten jeweils rollentypisch aufgemacht, bis auf den Dr. Schön, der trotz Platte kaum älter wirkt als sein Sohn. Was hat das Gießener Haus hier doch eine Truppe von gutaussehenden Sängerdarstellern zusammengebracht!
Auch wenn bei einigen Solisten Abstriche zu machen sind, überzeugt die musikalische Seite des Abends ebenso wie die Regie. Prächtig konzentriert spielte das Philharmonische Orchester Gießen unter der Leitung von Herbert Gietzen auf. Es war mit etwa 28 Musikern angetreten, nur hälftig mit Streichern ziemlich perkussionslastig und zusätzlich mit einem Klavier besetzt. Noch bemerkenswerter ist die verhältnismäßig starke Besetzung mit tiefen Holzbläsern: allein fünf Instrumente, dabei eine Bassklarinette und ein Kontrafagott, die zu besonders prägnanten Farbgebungen genutzt wurden. Die gewaltigen Ausbrüche und die Opulenz des ursprünglich vorgesehenen 90-köpfigen Orchesters (das auch an großen Häusern nur sehr selten realisiert wird) konnten zwar nicht erzeugt werden, aber Gietzen ließ die Instrumentierung sehr dicht, ausdrucksstark und ausgewogen erscheinen. Souverän leitete er das musikalische Geschehen. Das Orchester klang dabei sehr präzise und spielte so gut wie fehlerfrei auf.
Es war aber vor allem der Abend der erst 32-jährigen Alexandra Samouilidou in ihrem Rollendebut als Lulu. Die Koloratursopranistin vom jungen Ensemble des Staatstheaters Mainz gab einen umwerfenden ersten Akt. Ihre überaus attraktive Bühnenerscheinung unterstützte ihr gekonntes nonchalant-verführerisches Spiel als Archetyp des begehrenswert Weiblichen. Dazu sang sie mit schön variabler Farbgebung, stieg unbekümmert und scheinbar unangestrengt in die Höhen ihrer Partie auf, ohne auch nur einmal schrill oder scharf zu wirken. In Akt zwei und drei ließ sie es allerdings selbst in dem kleinen Theater an Volumen vermissen; da müsste sie ihre Kräfte noch besser einteilen.
Trotzdem: diese jugendlich-betörende Lulu wird sich in ihrer späteren Karriere sicher auf dieses Debut berufen können. Die weiteren weiblichen Rollen waren ebenfalls prächtig besetzt. Almerija Delic gab mit schön grundiertem Mezzo die Gräfin Geschwitz und Odilia Vandercruysse konnte in den Rollen Garderobiere/Gymnasiast/Groom nicht nur gut gefallen, sondern voll überzeugen. Stimme und  Statur des sehr jugendlichen amerikanischen Baritons Adrian Gans passten indes nicht ganz zum Profil des Dr. Schön. Zwar hat er die richtige Statur und Bühnenpräsenz, dazu Stimmgewalt und eine sonore tiefe Lage, aber den hohen Passagen fehlte es an Schmelz und Geschmeidigkeit. Das Gleiche gilt für Dan Chamandy; er hatte die schwierige Partie des Alwa übernommen und ließ es bei aller stimmlichen und darstellerischen Potenz gerade an der Höhenfestigkeit missen, die in dieser Rolle so wichtig ist. Der rumänische Nachwuchstenor Catalin Mustata gab den Maler/Neger mit hellem lyrischen Tenor mit sicheren, aber etwas engen Höhen. Der Schigolch von Monte Jaffe konnte rundherum überzeugen ebenso wie Stephan Bootz als stimmstarker Tierbändiger/Athlet. In weiteren kleineren Rollen Wojtek Hlicki-Alicca solide als Prinz/Kammerdiener/Marquis und Tomi Wendt als Theaterdirektor/Bankier.
Der größte Applaus aus dem nicht ausverkauften Kaus galt natürlich höchst verdient Alexandra Samouilidou; aber auch der Dirigent und das Orchester sowie alle anderen Solisten wurden gebührend gewürdigt. Lulu gibt es noch am 20.05., 14.06., 24.06. und 30.06.12 jeweils um 19h30. Keine Angst vor Zwölftonmusik!
Manfred Langer, 16.05.2012, Der Opernfreund