Die Dialektik des Mörderischen - Frankfurter Rundschau

14.05.2012

Die Dialektik des Mörderischen
Uraufführung von Eberhard Klokes revidierter Fassung von Alban Bergs „Lulu“ im Stadttheater Gießen


Ist das noch der Diwan, auf dem sich dein Vater verblutet hat?“ Mehr als vier Jahrzehnte lang waren das fürs Publikum Lulus letzte Wort, und wenn man dazu addiert, dass Lulu die Frage ihrem aktuellen Lebensabschnittspartner Alwa stellt und dass sie selbst dessen Vater erschossen hat, scheint dieser Schluss dem Prolog recht zu geben: „ Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften, zu locken, zu verführen, zu vergiften – und zu morden…“.
Ob Alban Berg das so gemeint hat? Friedrich Cerhas Fassung des dritten Aktes, im Jahr 1979 in Paris uraufgeführt, veränderte den Blick auf Lulu gründlich, aber das vorläufig letzte Wort in dieser Sache kommt jetzt von Eberhard Kloke. Er hat nach besten Wissen und Gewissen den dritten Akt revidiert und eine Instrumentation eingearbeitet, die das Werk auch für kleinere bühnen spielbar macht. Thomas Oliver Niehaus hat diese Fassung am Stadttheater Gießen inszeniert, Herbert Gietzen hat die musikalische Leitung und das Ergebnis dieser hybriden Uraufführung rechtfertig eindrucksvoll den enormen Aufwand und rückt in Sachen Lulu einiges zurecht, was endlich zurechtgerückt gehörte.

Niehaus und sein Bühnenbildner Lukas Noll erzählen die Geschichte der Lulu ohne vordergründige Effekte, mit subtiler Klarheit als die eines missbrauchten Kindes dem die Männer stets die Verantwortung, sonder zunehmend auch die Initiative zu übernehmen und ist damit dem Bild, das die Männer sich selbst von ihr machen, immer ähnlicher geworden, ohne je damit tidentisch sein zu können. Sie ist eine multiple Persönlichkeit, ein Mosaik aus abgespaltenen Fragmenten, zwischen denen sie changiert und die kein Ganzes ergeben.
Sie ist damit nicht nur Repräsentantin einer ästhetischen Moderne, sonder auch Produkt männlicher Fantasien und Handlungen, indem das Mörderische das ihr angetan wurde, auf die Täter zurückfällt. Dennoch schafft sie es nicht, trotz aller angelernten Geschlechterkriegsstrategien, am Ende etwas anderes zu sein als ein Opfer: Jack the Ripper ist nur der Konsequenteste einer Reihe von Männern, die mit dem alles dementierenden (Vater?) Schigolch angefangen hat.
Die Gießener Inszenierung findet in einem Bühnenbild statt, das permanente Umstellt- und Umlauert sein Lulus eindringlich verdeutlicht. Ständig stehen fast alle handelnden Personen – auch die Toten- am Bühnenrand und beobachten das Geschehen, zu ihnen gesellen sich, tief gestaffelt und oft symmetrisch ausgestellt, gesichtslose Pappkameraden. Jede Situation ist eine öffentliche Situation. Intimität ist bloß eine Rolle, die gespielt werden muss, nur gemordet wird diskret.
Darstellerisch und sängerisch lässt die Gießener Inszenierung wenige Wünsche offen. Alexandra Samouilidous ist eine in allen Lebenslagen leuchtende Lulu, die sich aus Selbsterhaltungsgründen die Fähigkeit zu leiden abgewöhnt hat. Ihre Stimme hat lyrische Intensität, die sie nicht zu falschem Psychologisierten nutzt, sondern für die Inszenierung einer permanenten Auflehnungs-Anstrengung gegen das Elend des eigenen Lebens und der Welt. Es ist diese Haltung die den expressionistischen Kern der „Lulu“ ausmacht und die hier das Geschehen prägt. Adrian Ganz als Dr. Schön / Jack the Ripper gelangt mit seiner eindrucksvollen baritonalen Präsenz zu einer ähnlich intelligenten Dialektik zwischen virilem Auftrumpfen und situativer Verletzbarkeit. Seine paranoide Phase absolviert er in epische Manier nicht empathisch, sondern vielmehr demonstrativ,
Was unter Herbert Gietzens Leitung aus dem Graben kommt, ist von bemerkenswerter Qualität. Eberhard Klokes Arrangement hat Bergs Musik ihre dramatische Unmittelbarkeit gelassen, die sich ohne harmonische Rücksichtnahme mit den Textkörpern verbündet und verzahnt. Und weil man hier keinen Orchesterapparat hört, sonder eine fas solistisch schlankem feinsinnig formende Klangarbeit mit hoher Informationsdichtem sieht und hört man zuweilen das Drama wie unter einer Lupe. Diese „Lulu“ ist ein guter Grund, nach Gießen zu fahren.

14. Mai 2012, Frankfurter Rundschau, Hans-Jürgen Linke