Großartige Werbung für bunte Vielfalt der Musik - Gießener Anzeiger

03.01.2012

Neujahrskonzert im Gießener Stadttheater: Großartige Werbung für bunte Vielfalt der Musik

So hat man den berühmten ersten Satz aus Peter Tschaikowskys populärem Klavierkonzert b-Moll noch nie gehört. In das romantisch rauschende Orchester und die majestätischen Klavierklänge mischten sich plötzlich E-Gitarre, E-Bass und Schlagzeug der „Late Night Band“ und trieben das gemeinsame Musizieren rasant auf die Spitze. „Das war wirklich ein fulminanter Einstieg“, meinte die Gastgeberin des Abends, Intendantin Cathérine Miville, die die Zuhörer in dem proppenvollen Stadttheater gestern zum traditionellen Neujahrskonzert willkommen hieß.
„Es ist schön, für ein so interessiertes und neugieriges Publikum Theater machen zu dürfen“, sagte sie und versprach, auch 2012 dafür zu sorgen, „dass das Stadttheater Gießen das bleibt, was es ist: ein kleines, aber besonders Theater.“ Was sie zu diesem Zeitpunkt nicht versprechen konnte, das erwies sich erst in den kommenden drei Stunden: Dieses Neujahrskonzert unter der Leitung von Generalmusikdirektor Herbert Gietzen war eine großartige, erstklassige Werbung für die bunte Vielfalt der Musik. Unter dem Motto „Crossover“ zeigten eine Reihe hochkarätiger Gäste und das vor Spielfreude nur so sprühende Philharmonische Orchester Gießen wie spannend, unterhaltsam und zu Herzen gehend es sein kann, wenn Klassik auf Jazz, Swing, Rock und Pop trifft. Das freudig gestimmte Publikum nahm die bunte Mischung dankbar an und feierte die jeweiligen Darbietungen mit stürmischem Applaus und Bravorufen. Wie sagte doch die Intendantin am Ende, als begeisternder Beifall durch das ganze Haus wogte: „Crossover ist, wenn Musik Spaß macht.“
Gleich zu Beginn lieferte das von Gietzen dirigierte Orchester mit den „Sinfonischen Tänzen“ aus Leonard Bernsteins „West Side Story“ ein Glanzstück ab. Der nötige Drive, der Pulsschlag einer neuen Zeit, war vom ersten Takt an spürbar, und in perfekter, detailgenauer Wiedergabe erwachte Bernsteins Meisterwerk mit seinen häufigen Wechseln der Rhythmen, Harmonien, Klangfarben und Stimmungen zum Leben.
Als Gast führte der vom Fernsehen her bekannte Pianist, Komponist und Arrangeur Christoph Pauli vor, wie inspiriert und elegant er sich zwischen den Stilen zu bewegen versteht. Oben Frack, unten Jeans, oben Rubinstein, unten Rolling Stones ließ er schon äußerlich erkennen, dass er Crossover im Blut hat. Nach einem kurzen „Play Bach“-Ausflug gab ein klingendes Handy mit dem Rondo alla turca den Startschuss zu einer munter-vergnügten Mozartinterpretation, wobei Pauli am Konzertflügel und die „Late Night Band“ (Enrico Coromines, Gitarre; Laurenzius Retzer, Bass; Thomas Neuböck, Schlagzeug) in einen irrwitzigen Dialog mit Kurt Förster (Posaune), Johannes Osswald (Trompete) und Peter Ehm (Saxofon) traten. Die Bläser versuchten nämlich immer wieder, den Gospelsong „When the saints“ bei Mozart unterzubringen. Ein großes Klangspektakel entfaltete sich anschließend bei Beethovens Fünfter, die in der Version des Films „Saturday night fever“ mit hämmerndem Disco-Sound daherkam.
George Gershwin sei der Urahn des Crossover, denn er habe die feindlichen Lager des Jazz und der Klassik miteinander verschmolzen, erklärte Herbert Gietzen, bevor Gershwins „Rhapsody in Blue“ mit Christoph Pauli als Klaviersolist eine sehr beschwingte, dynamische Aufführung erfuhr. Da der amerikanische Komponist selbst hervorragend Klavier spielte, übernimmt dieses Instrument hier die Hauptrolle. Nach der sich emporschwingenden Klarinette (Anna Deyhle) brillierte denn auch Pauli über weite Strecken als eleganter, souveräner Interpret. Im Zusammenspiel mit dem Orchester, im raschen Vorbeifliegen der Melodien und Rhythmen, in den funkelnden Klängen und dem Farbreichtum blühte Gershwins geniale Musik herrlich auf.
Ihre solistischen Fähigkeiten konnten die Orchestermusiker sodann in Maurice Ravels „Bolero“ eindrucksvoll unter Beweis stellen. Dem vorne rechts platzierten Joachim Michelmann konnte man ganz genau auf die Finger schauen, wie er an der Trommel den von Anfang bis Ende unveränderten Beat wie eine Maschine durchhielt. Und weil sich das Orchester auch sonst von seiner besten Seite zeigte, tobte hinterher das ganze Haus.
Mit enormer Fingerfertigkeit glänzte die bulgarische Akkordeonistin Veronika Todorova in Astor Piazzollas „Concerto Aconcagua“ und in Renzo Ruggieris „Tango italiano“. Die zuvor gestellte Frage, ob Komponisten Humor haben, beantwortete Herbert Gietzen auf seine Weise, indem er mit dem Orchester vorführte, wie Bach, Mozart und Brahms den Lena-Hit „Satellite“ geschrieben hätten (am Klavier: Evgeni Ganev). Ein schöner Spaß.
Mit einer ergreifenden Popversion von Albinonis Adagio führte die stimmgewaltige Sängerin Kerstin Heiles im letzten Teil des Abends in den Bereich der leichten Muse. Und zusammen mit Pat Lawson ließ sie in den Hits „Up where we belong“ und „Music“ (John Miles) den ganz großen Gefühlen Lauf.
Da ein Neujahrskonzert ohne ein paar Walzertakte von Johann Strauß aber nur halb so schön ist, verabschiedete sich das Orchester als Zugabe mit einer Swingversion der „Schönen blauen Donau“. Prosit Neujahr!

Thomas Schmitz-Albohn, 02.01. 2012, Gießener Anzeiger