Großes Belcanto-Fest - Gießener Anzeiger

19.03.2012

Großes Belcanto-Fest

Vergessene geratene Oper „Maria Tudor“ von Giovanni Pacini in grandioser Aufführung im Gießener Stadttheater zum ersten Mal auf deutscher Bühne
In Vergessenheit geratene Oper „Maria Tudor“ von Giovanni Pacini in grandioser Aufführung im Stadttheater zum ersten Mal auf einer deutschen Bühne

Ein bisschen war es wie bei der triumphalen Uraufführung vor 169 Jahren: Minutenlang wogte der Beifall durchs vollbesetzte Haus. Für die Sängerinnen, Sänger und den Dirigenten wurden Blumensträuße auf die Bühne geworfen, und immer wieder brandeten Jubelrufe auf. Gefeiert wurde ein rauschendes Belcanto-Fest, ein Fest der schönen Stimmen und betörenden Melodien. Nach der überschwänglich gefeierten Premiere der Oper „Maria Tudor“ von Giovanni Pacini am Samstagabend im Gießener Stadttheater bleibt nur noch eine Frage: Wie war es nur möglich, dass ein so bühnenwirksames Werk für so viele Jahre in den Archiven verschwand?
Mit dem Aufkommen Verdis wurden die Werke des Sizilianers Pacini zunehmend von den Spielplänen verdrängt. „Maria Tudor“ gelangte zum Beispiel nie nach Deutschland. Das bislang Versäumte wurde jetzt in Gießen in einer grandiosen, zweieinhalbstündigen Aufführung in der Inszenierung von Joachim Rathke und unter der musikalischen Leitung des Belcanto-Spezialisten Maestro Eraldo Salmieri nachgeholt. Die Handlung geht auf eine Romanvorlage von Victor Hugo zurück: Tudor-Königin Maria, die als Maria die Katholische oder als „Bloody Mary“ in die Geschichte einging, hat den schottischen Grafen Fenimoore zu ihrem Günstling und Liebhaber gemacht. Als er sie mit einer anderen Frau (Clotilde) betrügt, bringt sie ihn mittels einer feingesponnenen Intrige aufs Schafott. Es dauert jedoch nicht lange, bis Maria Gewissensbisse plagen und sich die Liebe zu Fenimoore wieder regt. Sie verfolgt einen verhängnisvollen Plan, bei dem sie nicht davor zurückschreckt, einen Unschuldigen zu opfern, um ihren Geliebten vor dem Tod auf dem Schafott zu bewahren.
„Weltklasse!“
Dass sich Operndirektor Dieter Senft und Musikdramaturg Christian Steinbock in ihrem Bemühen, vergessene Werke der Opernliteratur wieder ans Licht der Öffentlichkeit zu befördern, weit über Gießen hinaus als Raritäten-Ausgräber mit einem guten Gespür für Kostbarkeiten einen Namen gemacht haben, zeigte sich am Premierenabend auch daran, dass extra ein Bus aus Wien mit Belcanto-Liebhabern angereist war. Und die waren hinterher überwältigt: „Weltklasse! Das gibt es noch nicht einmal in Wien.“
Genüssliches Schwelgen
Liebe, Verrat, Eifersucht und Hass: Die großen Gefühle haben natürlich in der Partitur ihren Niederschlag gefunden. Unter Salmieris ebenso zupackendem wie beschwingtem Dirigat haucht das Philharmonische Orchester Gießen einer Musik Leben ein, die sich im Fahrwasser von Rossini, Donizetti und Bellini bewegt und jeden Belcanto-Fan genüsslich schwelgen lässt. Die melodische Einfallskraft eines durchaus originellen Komponisten blüht auf, eingängige Arien und Duette wechseln sich mit wirkungsvollen Chorszenen ab, kräftige Kontraste in Tempo, Stimmung und Dynamik unterstreichen das dramatische Geschehen. Im Finale des zweiten Aktes lässt Salmieri allerdings dem ständig lauter werdenden Chor (ansonsten wie immer von Jan Hoffmann bestens vorbereitet) im Verbund mit den mächtigen Solistenstimmen zu sehr freien Lauf, so dass sich das Ganze zu einer ohrenbetäubenden „Tour de Force“ entwickelt. Als musikalisch sehr nuancenreich - und auch mit der nötigen Delikatesse so dargeboten - erweist sich der dritte Akt mit einem längeren reizvollen Klarinettensolo und der erschütternd-eindrucksvollen Hinrichtungsprozession.
Das Bühnenbild von Lukas Noll führt an einen unterirdischen, düsteren Schauplatz mit labyrinthartigen Schächten und Gängen. Wie in einer Höhle hört man das laute Plätschern von Wassertropfen, und an den blausilbern schimmernden Wänden sieht man die Wasserspiegelungen der Themse. Wie in einem Insektenstaat mit Königin, Soldaten und Arbeitern formiert sich auch dieser englische Hofstaat um seine Königin. Jeder belauert jeden, und selbst die Königin kann sich ihrer Aufpasserin (Odilia Vandercruysse) nur schwer erwehren. Die Kostüme von Dietlind Konold verstärken diesen Eindruck: Der in schwarzes Lack mit schwarzen Käppis gewandete Chor ist eine krabbelnde Termitenschar, und die mit blonder Perücke (warum blond??) ausstaffierte Giuseppina Piunti sieht in ihrem roten Kostüm mit roten Stiefeln, Maske und zerknitterter Krone wie eine Insektenkönigin aus dem Märchen aus.
Regisseur Rathke entwickelt die Dramatik aus den inneren Vorgängen der Figuren heraus. Daher gönnt er den Arien und Duetten zur Entfaltung auch szenisch viel Raum, konzentriert sich auf das Wesentliche und vermeidet jegliche Art von aufgesetzter Betriebsamkeit. Die Drehbühne wird nur eingesetzt, wenn es nötig ist, einen Ort- oder Stimmungswechsel herbeizuführen. Derart komprimiert gewinnt Rathke der Handlung sehr intensive Momente ab, in denen es vor innerer Spannung knistert.
Im Inneren kocht es
Giuseppina Piunti, die schon so oft Heroinen des Belcanto auf der Bühne des Stadttheaters verkörpert hat, meistert auch diesmal die schwierige, mit Koloraturen gepflasterte Partie der Maria Tudor mit Bravour. Mit ihrem beweglichen Mezzosopran nimmt sie jede Hürde und versteht es, in ihren Gefühls- und Stimmungsschilderungen immer wieder leuchtende Farben einzubinden. Darüber hinaus wirkt sie als Darstellerin sehr glaubhaft, indem sie hinter der starken Herrscherin die im Inneren zutiefst verletzte Frau zu erkennen gibt. Als sie vom Betrug ihres Liebhabers erfährt, sieht man, wie es in ihr kocht.
Große Gefühle und Leidenschaften sind auch bei Maria Chulkova im Spiel, die nach Puccinis Mimi nun wieder ihren makellos reinen Sopran zum Vorschein bringt und das einfache Mädchen Clotilde mit enormer emotionaler Hingabe ausstattet. Sicher in den Koloraturen und bei den Spitzentönen, bildet sie die ideale Ergänzung zur vergleichsweise dunklen Stimme von Giuseppina Piunti. Einer der intensivsten Momente der Aufführung ist das Duett der beiden Frauen im Angesicht der Hinrichtungsprozession: eine suggestive, ja gespenstische Szene.
Mit Sonnenbrille und karierter Hose (aha, Schotte!) spielt Leonardo Ferrando den Fenimoore als arroganten Schnösel, der sich frech auf dem Thron herum fläzt oder sich mit seinem Dolch die Fingernägel reinigt. Stimmlich ist dieser Schwerenöter zwischen zwei Frauen jederzeit auf der Höhe. Ferrandos Tenor verfügt über eine erhebliche Ausstrahlung, und wenn er zum Schluss noch einmal seine Liebe zu Clotilde besingt, tut er dies bewegend, fein nuanciert und nicht ohne Schmelz. Als Ernesto bringt Adrian Gans seinen mächtig strömenden Bariton zur Geltung - manchmal etwas zu stark. Als intriganter Kardinal Churchill verschafft sich Riccardo Ferrari mit seinem volltönenden Bass von Anfang an Respekt. Bei ihm muss man unwillkürlich an jene Verdi-Bässe denken, bei denen sich mit dem ersten Ton das kommende Unheil ankündigt.
Thomas Schmitz-Albohn,  19. März 2012, Gießener Anzeiger