»Hysterikon« im Stadttheater - Gießener Allgemeine Zeitung

23.04.2012

Ingrid Lausunds »Hysterikon« hatte im Stadttheater Premiere. Meike Niemeyer hat die unterhaltsame Revue schmissig inszeniert, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Stück eher banal ist.
»Willkommen, bienvenue, welcome«: Rainer Hustedt (Mitte) empfängt als Kassierer wie ein Conférencier die illustre Kundschaft. (Fotos: Dietmar Janeck)
»Kaufen und gekauft werden. Verkaufen und verkauft werden« – das ist der Stil der Zeit. Wo also ein Theaterstück ansiedeln, in dem es um die Käuflichkeit der Welt und den Preis für das Leben geht? Natürlich im Supermarkt. Ingrid Lausund lässt in ihrem
revuehaften Bühnenwerk »Hysterikon« allerlei skurrile, aber dennoch aus dem realen Leben gegriffene Charaktere zwischen den Marktregalen aufmarschieren.

Die kleinen und großen Dramen des Alltags hatten am Freitag in der Inszenierung von Meike Niemeyer im Großen Haus des Stadttheaters Premiere – pausenlose 90 Minuten voller Gags und Unterhaltung, aber ohne penetrant erhobenen moralischen Zeigefinger.

Ein rosa gekleideter Kassierer empfängt im pink-lila-goldenen Supermarkt – das Marktlogo erinnert verdächtig an Karstadt – die Kundschaft. Er kann ihre Gedanken lesen, gibt ihnen Anstöße, ihr Leben neu zu sortieren, und kassiert am Ende ab. Abgerechnet wird mit einer LifeCard mit beschränktem Guthaben und der Masterdepression. Und auch das Theaterpublikum hat schließlich für seinen Eintritt bezahlt und kann sich Rabatte und Freiminuten erkaufen.
Rainer Hustedt spielt den Kassierer als Conférencier, der das Panoptikum vorführt. Lange hat das Publikum den hochgewachsenen Mimen nicht mehr so agil erlebt, wie in dieser Rolle. Er ist amüsiert über die Typen, die da im von Bühnenbildner Lukas Döll in stilisierter Ästhetik kreierten Markt zwischen Bohnendosen und Zeitungsstand ihr kleines, teils erbärmliches Leben bloßlegen. Und er genießt es förmlich am Ende, die Rechnung für das Gesagte und Erlebte zu präsentieren. Mitleid? Fehlanzeige! Das liegt ganz unten links im Regal.

Autorin Lausund, die mit dem an antike Dramen erinnernden Titel »Hysterikon« die Zuschauer in die Irre leitet, hat keine Geschichte mit wirklicher Handlung und Moral als Quintessenz geschrieben, sondern lässt die Figuren wie in einer Sketchparade auftreten. Da spielen sich Ehedramen ab, da wird an der Kasse um den vordersten Platz gekämpft, da gibt es Sexangebote aus der Tiefkühltruhe – und das Publikum darf sich wie im wirklichen Leben von hysterischen Anfällen unterhalten lassen.
Sieben Schauspieler schlüpfen in insgesamt 15 Rollen und wechseln die von Bernhard Niechotz mit Freude am Jux entworfenen Kostüme in rasantem Tempo. Petra Soltau sorgt sich als pseudotolerante Frau mit Leinentasche um die Welt, um Sekunden später als Gucci-Trägerin ihren jungen Liebhaber berechnend an der langen Leine zu halten. Ana Kerezovic lässt es als Frau, die einen Bombenbauer beim Einkauf beobachtet, bei einem Striptease im Laden ordentlich krachen und sorgt als promiske Frigitte, die in der Tiefkühltruhe die Männer vernascht und schließlich zu Ramschpreisen verhökert wird, mit Hasenkostüm und Strapsen für Fremdschämen. Frerk Brockmeyer zeigt, dass er beim Kauf von aus einem Ferrari transformierten Kaffeekannen nicht nur den Sinn von Angebot und Nachfrage nicht versteht, sondern auch als achtjähriger Junge den Markt der von der Lehrerin als Belohnung vergebenen Heiligenbildchen zerschlagen kann. Harald Pfeiffer, der bis kurz vor Schluss als stummer alter Mann im Einkaufswagen zwischen den Regalen rollt, hat erst ganz zum Schluss etwas zu sagen und Pascal Thomas wechselt gekonnt zwischen den vom Leben erschreckten jungen Männern und dem Schicksal eines Frauenschwarms. Überraschung des Abends – neben dem mit unerwarteten Conférenciertalenten aufwartenden Hustedt – ist Theresa Henning. Sie spielt das schwarze Mädchen, das auf einmal einen Impuls hat und in ihrer Entscheidungsnot Angst davor hat, als Klischee zu enden, mit großer Natürlichkeit. Gerne würde man die 1984 in Halle geborene Gastschauspielerin auch in weiteren Produktionen des Stadttheaters erleben.
Nach eineinhalb Stunden ist der Spuk im Supermarkt zu Ende. Kassierer Hustedt kann ohne große Befürchtungen das Publikum nach eventuellen Reklamationen fragen. Sie kommen nicht. An der Inszenierung gibt es nichts auszusetzen, haben die Zuschauer sich doch offenbar gut amüsiert. Wirklich tiefgründig war das, was da schrill und bunt auf der Bühne zu sehen war, jedoch nicht. Dass man im Leben für alles bezahlen muss und alle irgendwie käuflich sind – das sind banale Lebensweisheiten, die nur schwerlich für ein Theaterstück von Format reichen. Karola Schepp, 23. April 2012, Gießener Allgemeine Zeitung