In der Rolle der launischen Diva fühlt sich Petra Soltau pudelwohl - Gießener Anzeiger

21.09.2011

Bravouröse Marlene-Dietrich-Vorstellung „The Kraut“ mit Petra Soltau im Theater im Löbershof


 „Sentimentaler Quatsch!“, schimpft die Diva, als ihr Diener Bernhard Hall am Klavier den alten Hit „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ anstimmt. Hall kennt die Macken und Marotten seiner Herrin ganz genau und hört sofort auf zu spielen: Das Publikum im Theater im Löbershof (TiL) ist zu Gast bei Marlene Dietrich. Man schreibt das Jahr 1989. Zurückgezogen in ihrer Pariser Wohnung in der Avenue Montaigne Nr. 12 und gefangen in der eigenen Legende plant der Weltstar seine Beerdigung. Die große, ruhmreiche Vergangenheit ist längst verblasst, doch hin und wieder kehren die Erinnerungen, Bilder und auch die Zweifel von damals zurück.
Petra Soltau fühlt sich in der Rolle der launischen Diva pudelwohl. Mit verächtlich heruntergezogenen Mundwinkeln, hochmütigem Blick und gehässig hingeworfenen Sätzen, die wie Schwerthiebe niedersausen, zeichnet sie in dem Stück „The Kraut“ von Dirk Heidicke (Jahrgang 1964) mit außerordentlichem Einfühlungsvermögen das Psychogramm einer vom Alter gebeugten Frau, die einst in der ganzen Welt der Inbegriff der Femme fatale war. Es ist eine bravouröse Vorstellung von großer Intensität, die dem Zuschauer für 75 Minuten die voyeuristische Nähe zu einem Mythos gestattet.
Pose gut getroffen
Und weil in dieser Inszenierung von Christian Lugerth alles perfekt wie am Schnürchen läuft, gab es bei der ausverkauften Premiere am Samstagabend großen Beifall für die großartige Petra Soltau und natürlich auch für Christian Keul, der in der Rolle des Dieners Bernhard Hall als vorzüglicher Klavierbegleiter glänzt und die Diva anhand ihrer alten, unvergessenen Lieder durch ihre Vergangenheit führt. Petra Soltau spielt aber nicht nur die Dietrich, sondern hat auch einen großen Spaß daran, ihre Lieder zu singen. Dabei beweist sie, dass sie nicht nur sehr gut bei Stimme ist, sondern auch den Tonfall und die Pose der Dietrich famos trifft - genau so, wie es der Berliner Groß-Kritiker Alfred Kerr Anfang der 30er Jahre beschrieb: „Es ist ihre mythische Höhe. Das Verachten mit dem Hauch einer Lippenveränderung, mit einem trüb verstehenden Zug um die adelige Schnauze.“
Die von Mila van Daag liebevoll ausgestattete Bühne vermittelt einen guten Eindruck von der Wohnung einer alten Dame, die mit ihren Erinnerungen lebt: hier die Schminkkommode, da das Klavier mit Notenstapeln darauf, dort die Musiktruhe, und überall Fotografien von Erich Maria Remarque, Orson Welles, Joseph von Sternberg und Ernest Hemingway - alle tot. Mit Hemingway verband Marlene Dietrich eine enge Freundschaft. Sie nannte ihn „Papa“, er nannte sie „The Kraut“. Auf demselben Schiff fuhren sie fort aus Europa. „Du hattest den spanischen Bürgerkrieg verloren und ich meine Heimat“, bemerkt die Soltau-Dietrich mit Blick auf die gerahmte Fotografie lapidar.
Lugerths Inszenierung rückt die Zeitzeugin Marlene Dietrich, die ein ganzes Jahrhundert überblickt, in den Mittelpunkt. Fragen quälen sie: Hätte sie dem Werben der Nazi-Größen nachgeben und nach Deutschland zurückkehren sollen? Hätte sie Adolf Hitler verführen sollen? Wäre die Katastrophe des Krieges zu verhindern gewesen?
Die neueste Produktion im TiL hat in 75 Minuten eine ganze Menge Dietrich zu bieten: Neben „Lili Marleen“, „Ich bin von Kopf bis Fuß“ und „Lieber Leierkastenmann“ ist Petra Soltau auch in der berühmten Pose als fesche Lola mit Zylinder und Strumpfband (!) zu bewundern. Und sie versteht es herrlich, verschiedene Ufa-Größen verächtlich zu persiflieren: Lale Andersen („die Nazi-Hafenlaterne“), Zarah Leander („der schwedische Transvestit“), Marika Rökk („das steppende Pferd aus Ungarn“) und Pola Negri („die polnische Stummfilm-Stute“). Alles in allem: ein köstlicher, unterhaltsamer Theaterabend mit viel Musik. 
Thomas Schmitz-Albohn, Gießener Anzeiger, 25.10.2010