In Gegenwart angekommen - Gießener Anzeiger

31.10.2011

Ibsens „Volksfeind“ ist im Gießener Stadttheater in der Inszenierung von Dirk Schulz fast bruchlos in unserer Gegenwart angekommenI

Der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen (1828 bis 1906) war der festen Überzeugung, dass seine Stücke 20 Jahre nach seinem Tod nicht mehr gespielt werden, weil es dann keinen Grund mehr gebe, sie zu spielen. Er, dessen großes Thema die Lüge war, meinte, es genüge, die Lüge zu entlarven, um sie aus der Welt zu schaffen. Wie sehr er in diesem Punkt irrte, führt das Gießener Stadttheater in seiner neuen Schauspielproduktion eindrucksvoll vor: Sein Schauspiel „Ein Volksfeind“ ist in der Inszenierung von Gastregisseur Dirk Schulz fast bruchlos in unserer Gegenwart angekommen. Man reibt sich verwundert die Augen und fragt sich: Ist das tatsächlich schon vor 130 Jahren geschrieben worden?
In zweieinhalb Stunden bekommt der Zuschauer ein spannendes Lehrstück über die immer wieder gern herbeibemühten Zugzwänge der Politik, über die Manipulation und Irreführung der Öffentlichkeit, über die Verführbarkeit der Massen und die nicht immer ruhmreiche Rolle der Presse zu sehen.
Noch immer Sprengkraft
Im Mittelpunkt steht eine Frage, die auch heute noch ihre Gültigkeit hat und seit Ibsens Zeit nichts von ihrer Sprengkraft verloren hat: Darf ein Angestellter der öffentlichen Verwaltung, der in seinem Arbeitsbereich auf Missstände stößt, damit an die Öffentlichkeit treten, oder ist er ausschließlich seinem Dienstherrn verpflichtet? Und darum geht es: In einem norwegischen Kurort stellt der Badearzt Dr. Thomas Stockmann fest, dass das Wasser der neuen Badeanstalt bakteriell verseucht ist. Der Bürgermeister des Ortes, Stockmanns Bruder Peter, will die Entdeckung geheim halten. Ein Machtkampf beginnt.
Bei der Premiere am Samstag im voll besetzten Haus dankte das Publikum allen Beteiligten mit einhelligem, überaus herzlichem Applaus für die sehr zeitgemäße Interpretation, die Ibsen mit seinen großen Wahrheiten zu einem Zeitgenossen von uns macht. Dazu trägt zu einem nicht unwesentlichen Teil auch die gelungene Übersetzung von Angelika Gundlach bei. In ihrer Sprache ist der Staub des 19. Jahrhunderts wie weggeblasen.
Das Stück führt mitten hinein in eine Gesellschaft, die auf verpestetem Grund ruht und deren geistige Quellen vergiftet sind. Bühnenbildner Bernhard Niechotz wählte für diesen Ort die Endzeitvision einer zerklüfteten Trümmerlandschaft. Wie sich in Caspar David Friedrichs berühmtem Gemälde „Das Eismeer“ die schroffen, ineinander verkeilten Eisbrocken zu einem bizarren Berg auftürmen, so bilden zerborstene Betonplatten bei Niechotz eine gefährliche Klippenlandschaft. Die Schauspieler müssen ständig aufpassen, wo sie hintreten. Wie gefährlich der Gang über die Klippen ist, zeigte sich bei der Premiere, als Ana Kerezovic (Stockmanns Frau) in ein Loch stürzte. Nach ein paar Schrecksekunden konnte das Spiel jedoch weitergehen.
Die Bürgerversammlung im vierten Akt, in der der Badearzt schließlich zum „Volksfeind“ erklärt wird, erhält eine spezielle Gießener Note, denn die versammelten Menschen im Saal sind durch mehrere Silhouetten der „Drei Schwätzer“ dargestellt. Musikdramaturg Christian Steinbock mimt einen ahnungslosen Betrunkenen, der durch die Reihen irrt, während Hetzparolen nach Nazi-Art aus den Lautsprechern tönen und dem Publikum das (ungute) Gefühl vermitteln, Teil dieser unheilvollen Versammlung zu sein. Und genau wie der satirische Zeichner A. Paul Weber, der für die Dummheit und Einfalt der Menschen tierische Darstellungen wählte, verpasst auch die Regie den Wortführern des Kurortes Tierköpfe. Damit nimmt die Inszenierung surreale Züge an, die keineswegs übertrieben wirken, sondern im redelastigen Drama auffällige Akzente setzen. Das gilt auch für die beiden Taucher im letzten Akt. Kurtz überragend
Sprachlich und darstellerisch in jedem Augenblick auf der Höhe erweist sich Roman Kurtz in der Rolle des aufrührerischen Arztes als die ideale Besetzung. Er findet nicht nur bezwingende Töne für dessen Willensstärke und Überzeugungskraft, sondern lässt auch das Tragikomische im Charakter dieses Wahrheitsfanatikers aufscheinen, wenn er zu allerlei Phantasmen und verstiegenen Ideologien neigt. Gleichwohl bleiben die Sympathien des Publikums bis zum Schluss bei diesem „grotesken Burschen“ (Ibsen), dem Kurtz so souverän eine Menge interessanter Facetten abgewinnt.
Als sein Gegenspieler macht Tim Ben Schöfer eine sehr gute Figur. Als Bürgermeister kehrt er nicht einfach den ehrgeizigen, begabten Politiker heraus, der es versteht, seine Zuhörer innerhalb kürzester Zeit auf seine Seite zu ziehen, sondern gibt auch den asketischen, humor- und freudlosen Mann zu erkennen, der immer meint, im Leben zu kurz gekommen zu sein.
Der kurzfristig für den erkrankten Frerk Brockmeyer eingesprungene Kai Hufnagel mischt dem gewieften Redakteur Hovstadt, der sein Fähnchen nach dem Wind hängt, Töne des Emporkömmlings bei. Corbinian Deller gibt dem Mitläufer Billing Kontur, und Milan Pesl zieht den Mäßigkeitsapostel Aslaksen ganz schön durch den Kakao. Wenn er zu Beginn umständlich mit einem großen Schild herumhantiert, fühlt man sich an den Schildermann im Seltersweg erinnert.
Gottfried Herbe spielt als Stockmanns Schwiegervater Mortel Kiil nur vordergründig den etwas vertrottelten Alten, der nicht mehr weiß, was draußen vorgeht. Der von Rainer Hustedt dargestellte Kapitän ist ein in sich gekehrter Mensch, der nicht viel spricht.
Die Frauen kommen nur am Rande vor: Glaubwürdig verkörpert Ana Kerezovic eine Ehefrau, die - meist im Stillen - trotz aller Wechselfälle immer zu ihrem Mann steht. Sehr viel offensiver drängt Mirjam Sommer als Tochter Petra voran; ihr Rebellieren und ihr jugendlicher Elan wirken nie aufgesetzt. Antonius Idvorean macht als Sohn Morten die Familie komplett.
Thomas Schmitz-Albohn, 31.10.2011, Gießener Anzeiger