Jubel im Stadttheater für Pacinis »Maria Tudor« - Gießener Allgemeine Zeitung

19.03.2012

Jubel im Stadttheater für Pacinis »Maria Tudor«

Sängerreigen auf höchstem Niveau: »Maria Tudor« von Giovanni Pacini wird als deutsche Erstaufführung im Stadttheater bejubelt.

Chapeau für die Sänger! In keiner Oper der letzten Jahre siedelt das Ensemble der Solisten am Stadttheater auf derart hohem Niveau wie bei Giovanni Pacinis »Maria Tudor«. Das unbekannte Belcanto-Werk feierte am Samstagabend in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln umjubelte deutsche Erstaufführung im nicht voll besetzten Großen Haus.

Allen voran bezauberte Giuseppina Piunti, die seit zehn Jahren in Gießen das Publikum in Gastrollen begeistert. Dass sie die Titelpartie mit blonder Perücke und Augenmaske spielen muss (die Maske trägt sie beim Regieren, wenn Gefühle Raum greifen nimmt sie sie ab), sei Regisseur Joachim Rathke verziehen – man erkennt Piunti auch an ihrem ausgefeilten Sopran, der mit spannungsreichen Tiefen und festen Höhen eine Nuance reifer klingt als andere. Piuntis Maria Tudor hat Strahlkraft und die nötige Power für die unzähligen Koloraturen.

Adrian Gans beantwortete in jeder Zeile die Frage nach dem exorbitantesten Sänger mit seinem Namen. Der Bariton steckt mit raumfüllender Chuzpe alle in den Sack. Oft nimmt er sich zurück, damit die Mitstreiter zu hören sind. In seiner Rolle als Ernesto Malcolm sieht er mit voller Haartracht aus wie eine Mischung aus Cary Grant und Oscar Wilde. Vor der Premiere hatte er sich an der linken Hand verletzt, weshalb er mit einem Verband um den Zeigefinger agierte.

Leonardo Ferrando gilt bei seinem Gießen-Debut als die Entdeckung des Abends. Sein lyrischer Tenor verfügt über Kraft und cremigen Schmelz, der bis in die höchsten Höhen fasziniert. Als Riccardo Fenimoore gibt Ferrando mit generösem Narzissmus den lasziven Parvenü. Maria Chulkova leidet als Waisenmädchen Clotilde Talbot wie schon als Mimi in »La bohème« auf zerbrechliche Art. Ihr heller Sopran behält dabei seine spannungsreiche Ausstrahlung. Odilia Vandercruysse war nach langer krankheitsbedingter Pause als Page zum ersten Mal wieder im großen Haus zu sehen. Riccardo Ferrari bot eine solide Gießen-Premiere als hinter den Kulissen die Fäden ziehender Gualtiero Churchill.

Die Duette waren geprägt von Wohlklang. Wenn Chulkova und Piunti beim Trauermarsch im dritten Akt den Gang des Geliebten aufs Schafott verfolgen, ist der morbide Glanz der Szene zum Greifen nah. Das dunkle Timbre der Italienerin ergänzte das glänzende Geschmeide der jungen Haussopranistin aufs Beste.
In nur 23 Tagen hat Pacini, der 300 Opern komponiert haben will, auf Sizilien die Orchesterpartie niedergeschrieben. Bei der Premiere 1843 in Palermo gab es frenetischen Jubel. Das Publikum war belcanto-ausgehungert nach Bellinis frühem Tod, Rossinis Beschluss, nicht mehr zu komponieren, und Donizettis Wegzug aus Italien. Nun also Pacini. Die ersten zwei Akte lassen Lücken klaffen, auch wenn der Komponist die Nummern mit expressiven Orchesterrezitativen verbindet. Es gibt ein bisschen Dreiertakt, ein bisschen Barkarole und jede Menge Messa di Voce – dazu viel Durchsichtiges ohne Hit-Qualitäten. Im dritten Akt liegen die musikalischen Einfälle auf höherem Niveau. Vielleicht hätte sich der Meister beim Komponieren etwas mehr Zeit nehmen sollen.

Gastdirigent Eraldo Salmieri im Graben ließ das Philharmonische Orchester Gießen die stimmungsvollen Passagen zu fest ausformulieren; darunter litt die Grandezza. Das Finale im zweiten Durchgang war an Lautstärke nicht zu überbieten. Großes Lob gebührt Carol Brown für ihre eindringlichen Querflötensoli und Anna Deyhle, die betörend auf der Klarinette musizierte.

Das Bühnenbild von Lukas Noll ist in sich stimmig, wie Starkoch Alfons Schuhbeck sagen würde. Aber gefällt es auch drei Akte lang? Noll hat für den Thron der Monarchin auf die Drehbühne eine kleine zweite Drehbühne montiert. Geprägt ist die Szenerie von einer graublauen Wabenkonstruktion, die an einen Bienenstaat erinnert, weshalb der gut aufgelegte Chor und Extrachor des Stadttheaters (Einstudierung: Jan Hoffmann) in schwarzen Latexkostümen wie Insekten durchs düstere Areal ziehen.

Die Wabenwände fungieren auch als Brückenbogen, schließlich spielt der erste Akt an der Themse (Licht: Kati Moritz); dem Finale im Kerker dienen sie als Gewölbe. Aus den Lautsprechern plingen Wassertropfen wie in einer Höhle, dennoch wirkt alles staubtrocken. Der mittlere Akt zeigt das Schlafgemach der Königin. Hier hätten ein paar Farbtupfer zum roten Kleid der Piunti (Kostüme: Dietlind Konold) nicht geschadet.

Regisseur Rathkes Personenführung muss sich an der Ausstattung orientieren, was nicht leichtfällt. Der gewählten Uniformität schafft der Einsatz der Drehbühne kaum Luft, sie erweitert oder beschränkt lediglich das Dreieck der Spielfläche. Im dritten Akt immerhin öffnet sich die Perspektive ein wenig, wenn Clotilde oberhalb des Kerkers stehen darf. Die angedeuteten Hinrichtungsszenen zu Beginn und am Ende, wenn der Kreis sich schließt, gelingen ohne Blutspritzer. »Maria Tudor« sollte übrigens nicht mit der gleichnamigen Königin verwechselt werden. Womöglich handelt es sich bei der Opern-Tudor eher um Elisabeth I. Für Librettist Leopoldo Tarantini, der das Stück nach dem Schauspiel von Viktor Hugo geschrieben hat, ist Historizität eher Nebensache. Auf die Spannung kommt es an. Am Ende, wenn
Fenimoore tot ist und Ernesto seine Clotilde in die Arme schließen darf, nimmt die Gerechtigkeit ihren Lauf. Die gescheiterte Königin wendet sich der Religion zu. Alles wird gut.
Manfred Merz, 19. März 2012, Gießener Allgemeine Zeitung