Lulu-Premiere setzt hohe Maßstäbe - Gießener Anzeiger

14.05.2012

Lulu-Premiere setzt hohe Maßstäbe

Um es gleich zu Anfang vorwegzunehmen: Mit der Uraufführung der kammermusikalischen Fassung von Bergs „Lulu“ hat das Ensemble des Gießener Stadttheaters am Samstagabend hohe Maßstäbe für weitere Aufführungen gesetzt.
Die Inszenierung von Thomas Oliver Niehaus war lebendig, episch und vielschichtig, das Orchester agierte unter Gietzen sorgsam und ausdrucksstark und die Besetzung der Lulu war mit Alexandra Samouilidou ein wahrer Genuss. So blieb das hochkonzentrierte und vom Bühnengeschehen gefesselte Publikum bis zum Schluss fast vollzählig und zeigte sich mit anhaltendem Applaus schlichtweg beeindruckt.
Erwies sich die 2010 durch Eberhard Kloke vollendete Version von Alban Bergs „Lulu“ bei ihren ersten Aufführungen in Kopenhagen, Oslo und Dresden bereits als erfolgreiche Alternative zur 1978 entstandenen Cerha-Fassung, so ermöglicht es nun die am Samstag im Stadttheater uraufgeführte Fassung für Kammerorchester und Soli auch kleineren Häusern, den Aufstieg und Fall der lebendig gewordenen Männerfantasie Lulu, deren Geschichte auf die Werke „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“ von Frank Wedekind zurückgeht, auf die Bühne zu bringen.
In der auf 28 Musiker reduzierten Version fehlt es dabei an nichts: Die auf einer Zwölftonreihe basierende Musik klingt auch für die kleinere Besetzung nicht weniger präsent und vordergründig, deutlicher wird allerdings der fragmentarische Charakter des dritten Aktes. Zu verdanken war die gelungene Darstellung einem sorgsam agierenden Herbert Gietzen, der die klangliche Subtilität und den Formenreichtum der Bergschen Musik in intensiven Spannungsbögen von den Instrumentalisten der Gießener Philharmoniker einfangen und die mal lyrisch untermalenden, mal atonal akzentuierenden Klänge mit viel Gespür für die nötige Dramatik erklingen ließ.
Der Bruch zu Beginn des dritten Aktes, in dem Kloke die gesprochenen Dialoge und die Musik oft hart ineinander laufen lässt und die Instrumentierung auf die von Berg vorgesehenen Lulu-Sologeige und das Klavier reduziert, wirkte in der kammermusikalischen Fassung zunächst überdeutlich, verzahnte sich jedoch mit besonderer Intensität mit dem Bühnengeschehen, dem plötzlichen Fall Lulus. Das von Kloke mit Hinsicht auf Bergs Klangspektrum und das Bänkelsängerlied Wedekinds hinzugefügte Akkordeon wirkte hier nicht nur als Füllinstrument, sondern wurde gleichfalls mit dem Akkordeonspieler auf dem Bühnenrand mitinszeniert.
Der multidimensionale Ausdruck der Musik, der die Figur Lulu von verschiedenen Seiten beleuchtet, spiegelte sich zugleich deutlich in der brechtisch gestalteten Inszenierung wider: Denn was ist Lulu, wenn nicht selbst eine vielschichtige Komposition aus Männerfantasien? Sie, das Charm sprühende und liebliche, das herrische und dominante Wesen, ist das Konstrukt uneinheitlicher Projektionen derjenigen Männer, die ihr verfallen, und verkörpert somit sowohl das liebliche, naive Mädchen an der Seite des Musikers Alwa (Dan Chamandy), die Dr. Schön (Adrian Gans) beherrschende Domina und wird unter dem Druck durch den Maquis (Wojtek Halicki-Alicca) zur habgierigen und rachsüchtigen Femme fatale. Exzellent ließ Alexandra Samouilidou die Titelrolle zur puren Verführung, zur Schmeichlerin, zur Leidgeplagten werden: Die junge Koloratursopranistin verfügte nicht nur stimmlich über alle Voraussetzungen für die heikle Titelpartie, sie nahm gleichfalls in immer wieder wechselndem Outfit gekonnt jede ihr angedachte Rolle ein. Dankenswerterweise verzichtete Niehaus’ Inszenierung im ersten Akt auf die Vorstellung von Lulus späteren Liebhabern in einem tatsächlichen Zirkusgeschehen und auch Gietzen verlieh klanglich dem von Berg nur teilweise auskomponierten Zirkus-Ton keine vordergründige Bedeutung. Stattdessen erfolgte die Einführung der späteren männlichen Todesfälle im Anzug und ohne jedes Tierfell durch Stephan Bootz als Tierbändiger, der in seiner Darstellung selbst sehr viel Biss bewies und nicht nur die Gesangspartien überzeugend darbrachte, sondern auch humorvoll und charismatisch spielte.
Das einzige Tier auf der Bühne blieb somit ein Zebra, auf das der Blick des Zuschauers bereits im 1. Akt fiel und das die geschickt eingesetzte Drehbühne selten verließ. Überwiegend schwarz-weiß war auch das übrige Bühnenbild (gestaltet von Lukas Noll), das bereichert wurde durch ein geschicktes Spiel mit direktem und indirektem Licht. Kontrastiert wurde das monochrome Bild vor allem durch ein immer wieder symbolisch eingesetztes Blutrot als Lichteffekt auf der im oberen Bühnenbereich befindlichen Leinwand, als Blut an den Fingern von Jack the Ripper nach Lulus Ermordung oder als Zeichen der tödlichen Verführung an Lulus Gewändern. Auch Lulu selbst (mal schwarzhaarig und mal blond) - mal die verkörperte Unschuld als weiße Braut, mal die Sünde als schwarz gekleidete Hure - war eine unberechenbare Mischung beider Extreme.
Viele stumme Beobachter
Zahlreiche stilisierte Männerfiguren, die an diejenigen in Frankreich an den Straßen aufgestellten denken ließen, die von den verkehrsbedingten Todesfällen zeugen, fungierten stets als stumme Beobachter, die je nach Bedarf ihre weiße oder ihre schwarze Seite zeigten oder gar mit roter Farbe bespritzt den Tod des Malers teilen mussten. Doch auch die übrigen zehn Darsteller wurden in vielen Szenen als stumme, jedoch nicht kommentarlose Beobachter auf der Bühne verteilt, wenn sie nicht gerade gesangliche Höchstleistungen vollbrachten. Besonders Gans’ verlieh mit seinem mächtigen Bariton Dr. Schön eine imposante Persönlichkeit und auch Chamandy war als künstlerisch abgehobener Alwa mit seinem klaren Tenor eine ausgezeichnete Besetzung.
Die herausragende Almerija Delic konnte als Gräfin Geschwitz vor allem am Ende in ihrer Klage um Lulu von ihrer eindrucksvollen und überaus leidensfähigen Stimme Gebrauch machen, Halicki-Alicca gab den übereuphorischen und leicht umnachtet wirkenden Prinzen ebenso triumphal und siegessicher wie den rosa gekleideten und im Rollstuhl sitzenden Maquis. Etwas zurückhaltender gestalteten Odilia Vandercruysse und Sora Korkmaz die Rollen als Theatergardrobiere/Gymnasiast/Groom und auch Monte Jaffe gab einen eher sanftmütigen, stimmlich zurückhaltenden Schigolch. Sehr weich gezeichnet wurde der Maler in der Darstellung von Catalin Mustata, der diesen als hilflose, flehende Kreatur verkörperte und zugleich seinen Part recht trocken und emotionslos sang.
Susanne Engelbach, 14. Mai 2012, Gießener Anzeiger