Maria Tudor - Opernglas

27.04.2012

Maria Tudor

In den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts zählte Giovanni Pacini zu den populärsten Komponisten überhaupt. Umso erstaunlicher ist es, dass sein Name heute nur noch wenigen Opernfreunden geläufig ist. Obwohl der aus Catani stammende Musiker nach eigenen Angaben rund 100 Opern geschrieben hat, hat sich keine im Repertiore  gehalten, auch nicht in Italien. Von einigen wenigen sind allerdings Gesamtaufnahmen erhältlich, so von >>L’ultiomo giorno di Pompei<< und >>Carlo di Borgogna<<. Das in Sachen Opernausgrabung sehr rege Stadttheater Gießen hat sich nun für die deutsche Erstaufführung von >>Maria Tudor<<, die Pacini 1843 in nur 23 Tagen komponiert hatte, stark gemacht.
Beim Stoff hatte er auf ein Drama von Victor Hugo zurückgegriffen. Der Inhalt sowohl der Vorlage als auch der Opernadaption erinnert stark an Gaetano Donizettis >>Roberto Devereux<<, als hätte eher Elisabeth I. für die Titelfigur Pate gestanden und nicht etwa deren ältere Schwester, die historische Maria I., die 1553 zur englischen Königen gekrönt worden war. Die in Schauspiel wie Oper thematisierte Liaison zwischen Maria und Fenimoore hat es jedenfalls in dieser Form nicht gegeben, eignet sich dessen ungeachtet aber sehr gut für die Opernbühne. Intrigenspiele an einem Königshof mit reichlich Liebeswirrungen waren gerade in der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts sehr beliebt.
Auch musikalisch erinnert >>Maria Tudor<< stark an die Bühnenwerke des heute wesentlich bekannteren Kollegen aus Bergamo. Sie ist voll von sprühenden Melodien, dramaturgisch klug aufgebauten großen Chor- und Ensembleszenen sowie effektvollen Arien und Duetten. Es ist eine Belcanto-Oper par excellence, die nicht leicht zu besetzten ist, da sie gleich fünf wichtige Partien aufweist.
Musikalisch nahm der Abend nach einem zunächst etwas holprigen Start schnell Fahrt auf. Die feine Rhythmik und der Melodienreichtum der Partitur waren bei Eraldo Salmieri in guten Hände. Das Philharmonische Orchester Gießen hat es in den vergangenen Spielzeiten häufig mit Werken des Belcanto zu tun gehabt, und so fehlte es in nicht an der notwendigen Italianitá und am transparenten und flexiblem Klangbild. Jan Hoffmann hatte zudem den Chor, der in Pacinis Oper eine gewichtige Rolle spielt, hervorragend einstudiert.
Die junge Russin Maria Chulkova, die seit Anfang 2011 zum Gießener Ensemble gehört, sang die Clotilde mit sicher auf dem Atem liegender Stimme, die mit der hohen Tessitura keine Mühe hatte. Auch sie bot Belcanto-Gesang auf vorzüglichem Niveau. Dies lässt sich für die übrigen Protagonisten nur mit Einschränkung sagen: Darstellerisch war Adrian Gans als Ernesto überzeugend, während es ihm stimmlich an Geschmeidigkeit und bruchlosen Übergängen fehlte. Riccardo Ferraris herbes, bisweilen hart erscheinendes Timbre passte recht gut zum üblen Intriganten und Machtpolitiker Churchill. Vor allem spielte der italienische Bass die Rolle sehr glaubhaft, sodass man über manche vokale Grobheit durchaus hinweghören konnte.
Absoluter Publikumsliebling in Gießen ist seit Jahren die Italienerin Giuseppina Piunti. Als Maria Tudor überzeugte auch sie in erster Linie szenisch, machte sie doch die Seelenqualen der Regentin deutlich, die hin-und herschwankt zwischen Staatsräson und der Liebe zu Fenimoore. Vokal bot Piunti ein Wechselbad der Gefühle zwischen feinen Piani und herauschgeschleuderten, scharfen und indifferenten Spitzentönen, die man mit Belcanto  kaum in Einklang bringen konnte. Bei allem Einsatz und aller bemerkenswerter Identifikation mit der Partie hätte man sich mehr stilistischen Feinsinn gewünscht. Das Premierenpublikum feierte ihn für ihre Leistung allerding mit uneingeschränkten Ovationen.
Der Regisseur Joachim Rathke hat die im 16. Jahrhundert spielende Handlung in einer nicht genau verorteten Zeit angesiedelt. Historisch anmutende Kostüme wechseln sich so mit eher modern wirkenden ab, für die jeweils Dietlind Konold verantwortlich zeichnet. Und neben dem Degen wird ebenso eine Pistole gezogen, die zweifellos aus dem 20. Jahrhundert stammt. Auch die Bühnenbildner von Lukas Noll mischen die Gegenwart mit der Zeit der Tudors, sodass der Eindruck entsteht, dass dieses Intrigenspiel zeitlos ist. Der durch die Gier nach Macht angetriebene Politiker Gualtiero Chruchill spielt dabei eine ganz entscheidende Rolle. Die Regie lässt ihn als hohen klerikalen Würdenträger auftreten, um zu verdeutlichen, dass Politik und Kirche in der Geschichte der Menschheit oft miteinander verflochten waren. Das hat Rathke überzeugend herausgearbeitet, wie die Personenführung insgesamt die eigentliche Stärke dieser Produktion ist.

L.-E. Gerth, Mai 2012, Opernglas