Neufassung der »Lulu« am Stadttheater uraufgeführt - Gießener Allgemeine Zeitung

14.05.2012

Neufassung der »Lulu« am Stadttheater uraufgeführt

Das war ein konzentriertes Erlebnis – für Ausführenden und Theaterbesucher. Manche der letzteren hielten es nicht durch und hinterließen schon nach der ersten Pause freie Plätze im Parkett. Wer drei Stunden Spielzeit ausharrte, wurde belohnt: Alban Bergs Oper »Lulu« fand bei der Premiere im Stadttheater volle Zustimmung.
Die in ihrer Bühnenkonzeption bildstarke, musikalisch überzeugende und sängerdarstellerisch höchst präsente Realisation war eine Uraufführung, denn Eberhard Kloke hat – wie für die vor wenigen Jahren hier am Hause produzierte Berg-Oper »Wozzeck« – für »Lulu« eine Fassung für Kammerorchester erarbeitet. Im Zentrum des Interesses stand dabei der dritte Akt, zu dem Berg nur Skizzen hinterließ; er erlag 1935, 50-jährig, den Folgen einer Blutvergiftung. Dass Kloke in seiner straffenden Sicht zu einer insgesamt ausbalancierten Gewichtung der drei Akte beigetragen hat, lässt sich an der Gießener Produktion feststellen.

1905 erlebte der junge Alban Berg in Wien eine Privataufführung von Wedekinds »Die Büchse der Pandora« und verfasste 20 Jahre später sein Opernlibretto, in das auch Wedekinds »Der Erdgeist« einfloss. Eine ereignisreiche Zeitspanne gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und künstlerischer Entwicklung liegt zwischen Anstoß und Ausführung, und wenn der Börsencrash von 1929 in der Kellerfahrt der »Jungfrau-Aktien« thematisiert wird, wirkt das heutzutage nicht einmal so fremd.
Regisseur Thomas Oliver Niehaus, mit zeitgenössischem Musiktheater eng vertraut, hat nicht nur hierzu aktuelle Bühnensprache gefunden. Der mit Sünde und animalischem Raubtier etikettierten Femme fatale ordnete er nicht Schlange und Tiger zu, sondern das kontrastreiche Zebra. In einem derart gestreiften Top führt sich auch die »wilde, schöne Urgestalt des Weibes« ein: Lulu steht im Zentrum eines recht abstrakten Ambientes, in dem das Schwarzweiß dominiert und Raum für bedeutsame Akzente lässt (Ausstattung: Lukas Noll). Eine Schar männlicher Pappfiguren steht streng choreografiert, das Licht spielt eine herausragende Rolle, und Kati Moritz (Licht) bezieht in weit über 100 Einstellungen sogar das Parkett mit ein. Die Präambel ist gleichzeitig vorausweisend und hintergründig; der Tierbändiger stellt nämlich Lulus spätere Männer mit Tiernamen vor. Naturalistisch in der Bühnenmanege ist nur das Zebra, auf dem Alwa, Ehemann Nummer drei, die bilderreiche, erotische Apotheose seines Traumweibes rezitiert. Regisseur Niehaus bietet klare Szenengliederung, meist schlicht mit Vorhang und Kammerspiel davor; überleitende Musik überbrückt die Schärfe mancher Schnitte. Ironische und Distanz gebende Elemente halten den starken Tobak von der männermordenden Kindfrau im Erträglichen.

Die Oper, durch betontes Agieren und Sprechgesang in Schauspiel-Nähe gerückt, stellt hohe Anforderungen an die elf Darsteller, allen voran an die Sopranistin Alexandra Samouilidou, die mit geschmeidigem Körper und dramatischer Ausdruckskraft eine berechnende Lolita gibt und mit beachtlicher Atemtechnik auch die extremsten Höhen samt Intervallsprüngen auf Niveau hält. Herausragend präsent ist Adrian Gans als Dr. Schön. Er bezwingt mit geballter Stimm- und Spielpräsenz. Ähnliches gilt auch für Dan Chamandy als Alwa und Stephan Bootz als Athlet, dem ein heißes Outfit verpasst wurde.

Nolls Kostümentwürfe konzentrieren sich naturgemäß auf die Titelfigur, deren Wandelbarkeit sich in der Kleidung spiegelt: von der Braut bis zur Prostituierten – im Schlussakt fast zu schön. Eine gelungene Kontrastfigur ist ihr Vater Schigolch: Monte Jaffe ist fast immer präsent, zu Anfang als schlurfender Bettler, gegen Ende thront er im Purpurmantel auf dem Podest – la commedia è finita. Zu Ende ist die Moritat aber erst, wenn Jack the Ripper zufrieden und blutbeschmiert aus dem Etablissement Lulus heraustritt. Ob er auch das Fräulein Geschwitz ermordet, bleibt offen.

»Ist das noch der Diwan, auf dem sich dein Vater verblutet hat?« diese Frage stellt Lulu am Ende des 2. Akts an Alwa, den Sohn des ermordeten Dr. Schön. Ein Schlüsselsatz zur Charakterzeichnung des »Engels mit dem kalten Herzen«, dem selbst Frauen verfallen. Als Gräfin Geschwitz brilliert die Mezzosopranistin Almerija Delic. Odilia Vandercruysse meistert drei kleinere Rollen, ebenso Woitek Halicky-Alicca und Christian Steinbock; der Musikdramaturg hat übrigens einen lesenswerten Beitrag im Programmheft verfasst. Catalin Mustata ist Lulus zweiter Ehemann, der Maler; in kleinen Rollen Tomi Wendt, Aleksey Ivanov und Olga Vogt.

Herbert Gietzen zauberte am Pult des Orchesters Bewundernswertes, ließ Themen und Motive in der komplexen Partitur deutlich herausarbeiten und sorgte souverän für Einvernehmen zwischen Bühne und Graben. Hochmotiviert brachten die Philharmoniker die expressive Tonsprache zwischen knalligen Ausbrüchen, Atonalität und lyrischer Melodik zum Glühen. Die Kammerbesetzung erschien der Akustik des Hauses angemessen. Blech, Schlagwerk und Flügel sowie Kontrafagott und Bassklarinette gaben besondere Farben, und wenn der Akkordeonspieler aus dem Untergrund steigt, entsteht melancholische Stimmung auf der Szene.

Die lebhafte, herzliche Schlussakklamation galt auch dem Komponisten der Neufassung, Eberhard Kloke, dessen Anteil zu einem spannenden, in Musik und Szene klug ausbalancierten, nachhaltigen Ergebnis beigetragen hat.
Olga Lappo-Danilewski, 14.05. 2012, Gießener Allgemeine Zeitung