Tolle Opernausgrabung in Gießen - Der Neue Merker

02.04.2012

Tolle Opernausgrabung in Gießen: „Maria Tudor“ von Giovanni Pacini

Dem Stadttheater Gießen, das seit Jahren immer wieder mit Opernraritäten aufwartet, gelang heuer eine sehenswerte Ausgrabung mit „Maria Tudor“ („Maria regina d’Inghilterra“) von  Giovanni Pacini. Die romantische Oper, die 1843 in Palermo ihre Uraufführung hatte, wird in Gießen als Deutsche Erstaufführung in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln gezeigt.

Die Handlung, die auf ein Drama von Victor Hugo fußt und in London im Jahr 1553 spielt, in Kurzfassung: Am Hof Maria Tudors bricht das Chaos aus. Nicht nur, dass Lord Fenimoore, der von der Königin zu ihrem Favoriten erwählt wurde, sie mit der jungen Clotilde Talbot betrügt, die als einzige das Autodafé überlebte, dem die Familie des Earl of Talbot zum Opfer gefallen war, scheint er sich auch noch gegen ihr Leben verschworen zu haben. Aber Fenimoore wurde Opfer einer teuflischen Intrige, die von der Königin nicht durchschaut wird. Daher beschließt sie, ihren Geliebten ohne Gnade zu opfern und ihn aufs Schafott zu bringen. Doch nach kurzer Zeit wird sie von Gewissensbissen geplagt. Sie entschließt sich, einen Unschuldigen zu opfern, um ihren Geliebten vor dem Tod zu bewahren, doch Clotilde und Churchill, der Urheber der Intrige gegen Fenimoore, durchkreuzen ihren Plan. Als sie erkennen muss, dass sie verloren hat, sucht sie Halt in der Religion. Die historische Maria Tudor erhielt übrigens wegen ihres harten Vorgehens gegen die Protestanten in England den Spitznamen „Bloody Mary“.

Die Inszenierung von Joachim Rathke läuft wie ein spannender Krimi ab und glänzt vor allem durch eine exzellente Personenführung. Schon während der Ouvertüre lässt er die beiden Rivalinnen um die Liebe von Fenimoore in weißer Unterkleidung auftreten und bei einer Hinrichtung zuschauen, die das Ende der Oper quasi vorwegnimmt. Während Clotilde als armes Waisenmädchen gezeigt wird, tritt Maria Tudor als unberechenbare Herrscherin und leidenschaftliche Frau auf, wobei ihr Gesicht meist durch eine Maske halb verdeckt bleibt. Raffiniert die Gestaltung der Bühne durch Lukas Noll, der mittelalterliche Gemäuer in Form von Bögen baute, die sich durch die Drehbühne in verschiedene Gemächer bis hin zu einem Kerker verwandeln ließen und daher eine ideale Lösung für die Horrorhandlung bedeuteten. Der Zeit entsprechend die Kostümentwürfe von Dietlind Konold, die auch Farbe ins finstere Geschehen brachten und zum Teil auch witzig wirkten, wie beispielweise die Gewandung von Fenimoore als südländischer Lover mit Sonnenbrille. Für die trefflichen Lichteffekte, die immer wieder für eine schauerliche Atmosphäre sorgten, war Kati Moritz zuständig.

In der Titelrolle brillierte sowohl stimmlich wie auch schauspielerisch die hübsche Giuseppina Piunti, die in letzter Zeit vom Sopran- ins Mezzofach wechselte. Mit ihrer farbenreichen Stimme drückte sie alle Gefühle ihrer Rolle wunderbar aus – von Herrschsucht über leidenschaftliche Liebe bis hin zur Trauer. Eine Idealbesetzung als Maria Tudor! Nicht minder beeindruckend die junge, zierliche Sopranistin Maria Chulkova als Clotilde Talbot, die sich vom armen Waisenmädchen zur Intrigantin und damit gefährlichen Rivalin der Königin entwickelt. Der aus Montevideo stammende Tenor Leonardo Ferrando konnte als Fenimoore nicht nur das Herz Maria Tudors gewinnen, sondern durch seine hell leuchtende, lyrische Stimme auch die Herzen des Publikums. Auf seine weitere Karriere darf man gespannt sein, auch wenn er in der Darstellung eines narzisstischen Liebhabers ein wenig übertrieb.

Eine eindrucksvolle Charakterstudie bot der Bass Riccardo Ferrari in der Rolle des intriganten Gualtiero Churchill, der öfter auf dem Thronsessel Platz nimmt als Maria Tudor. Ebenfalls stimmlich kraftvoll der Bariton Adrian Gans als Ernesto Malcolm, der –  von Churchill zum Meineid angestiftet – auch zum Tode verurteilt, aber von Clotilde gerettet wird. Köstlich die Sopranistin Odilia Vandercruysse in der stimmlich kleinen Rolle des Pagen. Sie lugte wie ein Detektiv ständig hinter Mauerecken und Torbögen hervor – wohl, um über das Treiben am Hof bestens informiert zu sein oder ihre eigenen Intrigen spinnen zu können? Stimmkräftig der Chor des Stadttheaters Gießen, der einige starke Szenen hatte.
Der zu Unrecht in Vergessenheit geratene Belcanto-Komponist Giovanni Pacini steht musikalisch zwischen Rossini und Verdi und besticht durch nahezu übersprudelnden Melodienreichtum, den das Philharmonische Orchester Gießen unter der Leitung von Eraldo Salmieri dem Publikum hervorragend vermitteln konnte. Die vom musikalischen Leckerbissen begeisterten Zuschauerinnen und Zuschauer belohnten alle Mitwirkenden mit nicht enden wollendem Applaus, unter den sich immer wieder „Brava“- und „Bravo“-Rufe für die exzellenten Sängerinnen und Sänger sowie „Bravi“-Rufe für das Orchester mischten.
Udo Pacolt, 31. März 2012, Der Neue Merker, Wien – München