Volksfeind kämpft um Wahrheit - Wetzlarer Neue Zeitung

01.11.2011

Volksfeind kämpft um Wahrheit

Genau 128Jahre ist Ibsens Drama „Der Volksfeind“ alt, wird gegenwärtig auf vielen deutschen Bühnen gespielt und zeigt auch in der Gießener Inszenierung von Dirk Schulz beklemmende Aktualität. Am Samstag war die Premiere.
Die knapp zweieinhalb Stunden dauernde Aufführung berichtet von dem Badearzt Dr. Stockmann (Roman Kurtz), der heraus gefunden hat, dass die Wasserleitungen für die Heilquelle verseucht sind. Seine engagierte Wahrheitsfindung geht jedoch in die Hose.
Schulz hat in einem genialen Bühnenbild von Bernhard Niechotz ein vehementes politisches Spiel inszeniert, seine Darsteller in den Dialogen fast statisch positioniert und sie auch in nervöser Hektik über das Trümmerfeld aus Betonteilen eilen lassen, Stolpersteine, die an die Baustelle in der Licher Straße erinnern.
Nach der Pause bevölkert ein Dutzend von Gießener Schätzern die Bühnen und schreit den Badearzt Stockmann, ein Gutmensch reinsten Wassers, nieder. Sein Credo „Es geht nicht mehr um vergiftete Wasserleitungen, sondern dass alle Quellen unseres geistigen Lebens vergiftet sind“ verhallt. Vom Bruder, dem rigiden und autoritären Bürgermeister (Timo Ben Schöfer) alleine gelassen, will der Badearzt auch außerhalb seiner Gemeinde weiter kämpfen, ein einsamer Fighter, der mit und ohne Mikro schreit, argumentiert und auch mit der Faust seine Wahrheitsliebe verteidigt. Provozierende Hingucker sind die Tierköpfe aus Hieronymus Boschs Gemälde, die den Medienmachern und dem Bürgermeister übergestülpt wurden, fast so makaber-gefährlich wie in Ionescos „Nashörner“. Das riskante Spiel um Bruderzwist und Korruption erfährt einen leichten Touch ins Unterhaltungstheater, wenn ein Betrunkener (Christian Steinbock) als „Running Gag“ über die Bühne eilt. Glücklicherweise ist die Gießener Inszenierung trotz einiger Längen nicht so endlos wie eine gegenwärtige Berliner Ibsen-Produktion mit rekordverdächtigen zwölf Stunden. Das Publikum erkennt erfreut die aktuellen politischen Sottisen, klatscht beim ausgedehnten Schlussapplaus jedoch nicht übermäßig frenetisch. Informationen und Karten unter www.stadttheater-giessen.de.
Peter Merck, 01. November 2011, Wetzlarer Neue Zeitung