Vom großen Kino der Gefühle ist ein B-Movie übrig geblieben - Gießener Anzeiger

09.01.2012

Vom großen Kino der Gefühle ist ein B-Movie übrig geblieben

 „Clyde und Bonnie“: Jugendtheater in der Inszenierung von Abdul M. Kunze - Junges Darsteller-Duo mit großartigen Leistungen

Bonnie und Clyde, der Mythos um das Gangsterpärchen, das in den 30er Jahren in den USA gleich serienweise Banken überfiel, zieht immer noch. Das bewies auch das Interesse an der Aufführung des Schauspiels „Clyde und Bonnie“ auf der Studiobühne des Stadttheaters. Das Premierenpublikum im ausverkauften TiL honorierte nach einer gut 80-minütigen Aufführung sowohl die großartigen Leistungen der beiden Schauspieler als auch den Einfallsreichtum von Abdul M. Kunze (Inszenierung) und Dimana Lateva (Bühne und Kostüme).
Umwerfend
Bleibender Eindruck: Die junge Ronja Losert, Studierende an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt, zeigt im Rahmen ihrer Praxiszeit am Stadttheater Gießen eine umwerfende Bonnie. Eine Vorstellung, die Bestes für ihre berufliche Zukunft erwarten lässt. Auch Pascal Thomas vom Ensemble des Stadttheaters stellte mit seinem betont lässigen Auftreten und seinen altklugen Sprüchen einen glaubwürdigen Clyde dar.
Das gleich zu Beginn wild mit Pistolen agierende Liebespaar steht an Glanz und Coolness nicht zurück hinter den historischen Vorbildern. Gemeint sind zunächst die „echte“ Bonnie und der „echte“ Clyde aus den 30er Jahren und dann vor allem auch Faye Dunaway und Warren Beatty, die als Darsteller in dem Hollywoodstreifen von 1967 Filmgeschichte schrieben. Ein nach außen hin glänzendes Paar, doch die Wirklichkeit hinter den Kostümen und Masken sieht anders aus, in den Dreißigern ebenso wie heute. Wirtschaftliche Rezession und Arbeitslosigkeit bestimmen den Alltag von vielen jungen Menschen. „Verreckt, ihr Scheißbullen“, brüllen die beiden bewaffneten Jugendlichen. Doch ihre Pistolen haben keine Munition und die wüsten Flüche helfen auch nicht weiter.
Das Thema der sozialen Verelendung regte den österreichischen Autor Holger Schober, Jahrgang 1976, zum Verfassen seines Theaterstücks für Jugendliche und Erwachsene an. Seine Frage: Wie könnte sich das Schicksal von Bonnie und Clyde in der Gegenwart darstellen? Der Autor wählte als Untertitel „Ein B-Movie“. Das ist ein Film, der mit niedrigem Budget und oftmals mit gebrauchten Kulissen auskommen muss. Dasselbe gilt auch für seine jungen Helden. Das Leben hat es mit beiden nicht gut gemeint, nun müssen sie sehen, wie sie mit den Versatzstücken klarkommen.
Doch Clyde und Bonnie lassen sich zunächst nichts anmerken, sie sind die Kings, tun zumindest so. In der Inszenierung von Abdul M. Kunze kommt die Wahrheit in eher melancholischen und zynischen Rückblenden ans Licht. Bonnie ist von ihrem Vater missbraucht worden, und Clyde, der in Wirklichkeit Werner heißt, hat bereits als Kind seine Mutter verloren. „Geschichten sind das, die keiner hören will“, sagt er über die Kindheit von Bonnie.
Ein Zwei-Personen-Stück stellt die Schauspieler immer vor eine besondere Herausforderung. Das Geschehen auf der Bühne wird fast ausschließlich von diesen beiden Akteuren und ihren Dialogen geprägt. Aufgelockert werden die langen Textsequenzen in „Clyde und Bonnie“ durch Action-Szenen mit Pistolen in der Bank, live durch den Auftritt der Schauspieler zu erleben und dann noch einmal in einer anderen Perspektive auf zwei Fernsehmonitoren zu verfolgen. Die beiden Schauspieler schaffen den schnellen Wechsel zwischen Situationskomik und Ernsthaftigkeit in einem bewundernswerten Balanceakt.
Wie in einem B-Movie sollen auch in dieser Aufführung die Kulissen alt und gebraucht wirken, so der Plan von Bühnenbildnerin Dimana Lateva. Alte Filmplakate kleben an den Wänden. Aus der Welt des Kinos stammen auch die lebensgroßen Werbefiguren mit dem Konterfei der beiden Schauspieler, hinter denen sich die beiden just in dem Moment verstecken, als sie sich unerwartet beim Psychologen wiedertreffen: „Bin ich jetzt schizophren und Du manisch, oder umgekehrt?“, scherzen die beiden Verliebten.
Realität oder Fiktion?
Noch mal ein Blick zurück: Kennengelernt hatte sich das Paar in einer Videothek. „Du bist der eine Moment, der mein Leben verändert hat“, sagt Clyde zu Bonnie. Großes Kino der Gefühle, bis der Alltag und mit ihm die Geldknappheit einsetzt. Die beiden beschließen, es ihren beiden Vorbildern nachzutun und eine Bank zu überfallen. So erlebt das Publikum ein Theaterstück auf mehreren Ebenen, doch welche davon ist echt? Was ist Realität, was ist Fiktion? Eines zumindest ist klar: Wenn einer verliert, dann aber richtig. So oder ähnlich formuliert es Bonnie, und sie ausgerechnet trifft es. Beim Verlassen der Bank wird sie von der Polizei erschossen, während ihr geliebter Clyde im letzten Moment entwischen kann. Abends sitzt er in einer Bar und betrinkt sich, bis ihn eine geheimnisvolle Frau aus den Gedanken reißt. Ist es Bonnie, ist es ein Todesengel oder einfach eine Sängerin, mit der sich Clyde schnell trösten kann? Ursula Hahn-Grimm, 09.01. 2012, Gießener Anzeiger