Agrippina - Der Opernfreund

25.03.2013

Umtriebe in der Kita: Wer ist das größere Luder bei den Kleinen: Poppea oder Agrippina? „Häschen in der Grube“ als lieto fine.

Agrippina, Händels 1709 in Venedig uraufgeführte Oper (27 Aufführungen!) war ein durchschlagender Erfolg und begründete Händels Ruhm als Opernkomponist. Hundertfach ist das Werk damals nachgespielt worden. Aber die Wiedereinführung ins Repertoire im Rahmen der Händelrenaissance erfolgte erst spät und schleppend, und heute ist die Agrippina zwar wieder regelmäßig auf den internationalen Spielplänen anzutreffen, aber deutlich seltener als seine zu Lieblingsstücken avancierten Opern wie Alcina oder Giulio Cesare. Völlig zu Unrecht steht Agrippina in der zweiten Reihe, denn die packende Handlung (wo gibt es das schon bei Barock-Opern?) und die süffige Musik machen sie zu einem wahren Meisterwerk. Worum geht es bei Agrippina? Wie immer im Barock wird die Handlung mit historischen Figuren durch ein eher kompliziertes erotisches Beziehungsgeflecht gekreuzt und nach den Verwicklungen zu einem guten Ende gebracht. In Agrippina ist das das amouröse Beziehungsgeflecht relativ einfach: eine Frau wird von drei Männern begehrt. Auch der politische Teil der Geschichte ist leicht verständlich: Agrippina geht es nicht um Liebe, sondern um Macht, wobei sie in haarsträubenden Intrigen alles anstellt, um ihren noch sehr jungen Sohn Nero zum Kaiser erheben zu lassen und sich als seine Mutter selbst an die Macht zu bringen. Aber die kleine  Poppea ist noch durchtriebener...
 
In der Oper geht es um Politik, also um Macht und Machtkämpfe, Intrigen, Lügen, Verstellung, falsche Versprechungen, Wahlkampf, Inkompetenz... Das kann jeder Regisseur natürlich leicht  vom antiken Rom ins politische Heute transportieren, weil sich ja daran nichts geändert hat. Dem Regisseur Balázs Kovalik wäre das aber zu trivial gewesen; so schenkt er es der heutigen Politik mal richtig ein: die Handlung spielt in einem Kindergarten! Erstaunlich, wie es passt, dass in diesem Kindergarten von den kleinen Ludern alles das angestellt wird, womit unsere hehre politische Klasse „Politikverdrossenheit“ erzeugt: intrigieren, gegeneinander ausspielen, mobben, zanken und dem anderen einfach sein kleines Bauklötzchen-Schloss kaputt machen. Nun können wir Transalpine mit  Blick nach Rom sagen, wo ja die Handlung spielt: so ist es eben da unten beim ClubMed und beim Cavaliere. Aber leider trägt der Kindergarten in der gelungenen bunten Ausstattung von Lukas Noll unverkennbare Züge nicht nur des Jetzt, sondern auch des Hier. Politiker, Intriganten, Lügner und Dümmlinge: die werden auf eine charmante, nicht doktrinäre Art und ohne erhobenen Zeigefinger als Kindergarten dargestellt: genial! Im kleinen prägnanten Programmheft werden dazu Machiavelli und Kant thematisiert...
 
Die Handlung spielt im nordischen Winter. Die Kinder werden von der Kindergärtnerin („Tante Sigrid“, einer von der Regie hinzugefügten bis auf den Schluss stummen Figur) aus gut isolierenden Steppjacken, Pudelmützen und Handschuhen ausgepackt und nacheinander in Szene gesetzt: eine kreisrunde Spielfläche in einem Kindergarten, wo in großer Detailliebe (und -Kenntnis!) vom Kleinspielzeug bis zu großen Stofftieren, von einer Kletterburg mit Rutsche bis Puppenküche alles aufgebaut ist, was Kinder zu ihrer Entfaltung heute brauchen. Darüber Hunderte von Origami-Papierfaltvögeln. Agrippina ist das Oberluder, das schon früh zu verstehen glaubt, wie man seine Umgebung zu seinen eigenen Zwecken instrumentalisieren kann. Nerone ist ein Idiot, der nichts versteht, und daher alles mitmacht; Ottone ein etwas einfältiger Typ, der deswegen auch von den anderen gemobbt wird; Claudius, der Gruppenälteste hat etwas mehr Autorität. Die größte Autorität hat aber Tante Sigrid, die zweimal autoritär eingreifen muss. Einmal als die Kinder, die natürlich keinen Spinat essen mögen, sich damit zu beschießen beginnen.) Nach dem Spinat-Essen müssen die Kinder Mittagsschlaf halten, was Stoff für weitere gelungene Inszenierungsdetails liefert) Und ein anderes Mal greift Tante Sigrid aktiv ein, als die Geschichte am Ende zu entarten droht (Nerone hat plötzlich ein Messer!), lässt die Kinder „Häschen in der Grube“ spielen lässt und leitet damit das lieto fine ein. Kleinere Eingriffe in die Partitur müssen hier hingenommen werden. Optimal trifft übrigens die Inszenierung die aristotelische Forderung nach Einheit von Ort, Zeit und Handlung!
 
Die unbedarften Zuschauer wissen nicht, was sie erwartet, wenn sich schon vor der sinfonia mitten im Parkett zwei Sänger erheben und ein Liebesduett (besser gesagt einen Wechselgesang) intonieren. Das sind die Darsteller/Sänger von Ottone und Poppea, die sich anschmachten. (Dieses Duett hatte Händel bei der Uraufführung opfern müssen, weil die Sänger sich einzeln profilieren wollten.) Dann erklingt die Ouvertüre, und es wird der Vorhang zum Kindergarten aufgezogen. Man versteht ziemlich schnell, aber fragt sich aber, wie das wohl über zweieinhalb Stunden tragen soll. Aber es trägt! Es trägt durch nicht enden wollende brillante Regieeinfälle und eine selten zu sehende Spielfreude der Sängerdarsteller. Nerone soll auf Anraten seiner Mutter im Stadtzentrum von Rom Wohltaten verteilen, um sich den Wählern genehm zu machen. Er tut das, indem er aus der Puppenküche Mahlzeiten verteilt. In der Inhaltsangabe steht: „Nerone bittet vor dem Kapitol um die Gunst des Volkes, indem er reichlich Geld verteilt.“ Paradiesische Zeiten! Denn heute wird Geld nicht verteilt, sondern nur noch versprochen – und dafür nach der Wahl der Steuersatz erhöht.
 
Naturalismus und Detailfreude des Bühnengeschehens lassen darauf schließen, dass der Regisseur entweder mit einer Kindergärtnerin verheiratet ist oder aber Studien vor Ort angestellt hat. Es ist einfach unglaublich, was sich die Küken von dem Verhalten der Erwachsenen abgeschaut haben, oder umgekehrt: was die Erwachsenen an infantilem Gehabe nicht abgelegt haben. Agrippina betreibt ihr Spiel immer in der Gegenwart aller; Poppea ist schlauer und hält in Einzelgesprächen im Waschraum Hof. Dort versteckt sie Ottone im Revisionsschacht und Claudio auf dem Klo, damit sie Zeugen werden, wie Nerone sie anmacht. Im Hauptraum des Kindergartens sind immer alle Personen anwesend. Alle Kinder, auch die gerade nicht das Geschen bestimmen, sind mit den vielfältigen Spielmöglichkeiten immeer in Bewegung. Es gibt in dieser Agrippina so viel zu sehen, dass der Platz hier knapp würde. Also: selber hingehen und in diesen launig und gutmütig vorgehaltenen Spiegel schauen.
 
In der Agrippina-Musik trifft man auf etliche „neuere“ Bekannte. Denn Händel hat die Oper später in England als Steinbruch genutzt und etliche musikalische Nummern einer Zweit- und sogar Drittverwertung zugeführt. Wenn man spätere Händel-Opern kennt, sorgt daher Agrippina für mehrfache musikalische Wiedererkennungseffekte.  Das Philharmonische Orchester Gießen spielte diesen Händel vom Feinsten. GMD und Barockspezialist Michael Hofstetter gelang es, sein Orchester quasi „im Hieb“ in die Top-Liga der Barock-Musik zu hieven. Sein Händel sprüht vor Temperament und Inspiration, vibriert vor Spielfreude und war glasklar in Transparenz und Präzision. Extra-Jubel für Hofstetter und sein Orchester am Ende!

Bei der Würdigung der Darsteller muss vorab und summarisch noch einmal auf ihr gekonntes Spiel hingewiesen werden. Die Umsetzung von Bewegung und Gestik war so überzeugend, dass man vermuten könnte, auch sie hätten bei einem Praktikum in einem Kindergarten Anschauungsunterricht genommen. Auch die Diktion der Sänger war überwiegend vorbildlich, was natürlich auch der Tatsache geschuldet ist, dass bereits der 25-jährige Händel „seinen“ Sängern die Rollen in die Kehlen geschrieben hat. Das Stadttheater Gießen hatte zu seinen eigenen jungen Ensemblemitgliedern eine Reihe ebenfalls noch sehr junger, aber schon profilierter Gastsänger hinzuengagiert und konnte damit eine Besetzung aufbieten, die das hohe Niveau von Inszenierung und Orchester hielt. In der Titelrolle der Agrippina überzeugte Francesca Lombardi Mazzulli als Gast mit ihrem kräftigen, in der Höhe schön leuchtenden Sopran, dem sie schöne Färbungen zu verleihen verstand. Die baskische Sopranistin Naroa Intxausti vom Gießener Ensemble begeisterte das Publikum mit ihrem silbrig-beweglichen Sopran als Poppea, traumhafter Intonation und Koloratursicherheit. In dieser Rolle konnte sie nachhaltig auf sich aufmerksam machen. Als Nerone war Valer Sabadus als Gast von der Bayerischen Theaterakademie August Everding besetzt. Nach anfänglicher Anspannung, die zu einigen nicht ganz getroffenen und gepressten Tönen führte, konnte aber auch er mit seinem hellen kräftigen Counter brillieren und voll überzeugen. Als weiterer Gast sang der Counter Terry Wey den Ottone und verlieh ihm mit seiner weichen runden und schön fließenden Stimme den gebotenen etwas melancholischen Ton. Den Kaiser Claudio gab bewährt Hans Christoph Begemann als Gast mit voluminösem, aber eher sanftem Bass, der auch profunde Tiefen auszuloten verstand. In den kleineren Rollen wirkten die Chorsolistin Sora Korkmaz mit klangschön austariertem Mezzo als Narciso sowie Tomi Wendt mit kultiviertem jugendlichem Bariton als Pallante. Was man vorher schon geahnt hatte: „Tante Sigrid“ ist ein Mann. Sicher hatte man ihn auch wegen seiner Körperhöhe von 185 cm ausgesucht, damit die Wuselkinder entsprechend kleiner wirken konnten. Die Rollen des Lesbo und der Giunone waren indes gestrichen, die dea ex machina war durch Ringelreihen ersetzt.

Langanhaltende Ovationen bescherte das Publikum aus dem vollen Haus den Darstellern. Bei der Vorstellung des Regieteams blieb der rein vokal ausgetragene Kampf zwischen Jublern und Buhern unentschieden. Anhängern von Opas Oper, vor allem wenn sie die Agrippina noch nie gesehen hatten, musste natürlich die Inszenierung als sehr krasse Variante vorkommen. Die sollten aber noch zweimal darüber nachdenken. Für Opernliebhaber, die nicht auf Konventionelles fixiert sind, ist dieses Regie-Schmankerl in Tateinheit mit einer großartigen musikalischen Leistung ein absolutes Muss, das auch eine längere Anreise lohnt. Vom 30.03. bis zum 26.05.2013 kommt Agrippina noch weitere sechs Mal.

Manfred Langer, 24.03.2013, Opernfreund