Alberne Späße eines jungen Dichters am Rande des Wahnsinns - Gießener Anzeiger

15.04.2013

Christian Lugerth inszeniert „Lenz. Fragmente“ von Katharina Gericke im TiL – Heftig beklatschte Uraufführung eines als „unaufführbar“ geltenden Stücks

„Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, nicht auf dem Kopf gehen zu können“: Berühmtes Zitat aus Georg Büchners Novelle „Lenz“. Dieser Textauszug durfte auch in Katharina Gerickes Schauspiel „Lenz. Fragmente“ nicht fehlen. Das Stück, das bisher als „unaufführbar“ galt, feierte jetzt Premiere im TiL, zugleich war es die Uraufführung. Und das mit großem Erfolg, wie der donnernde Applaus für Regisseur Christian Lugerth, Bühnenbildner Bernhard Niechotz und das kleine brillante Schauspielerteam bewies.

Ideale Darsteller

Eine Hommage an die verrückte Zeit des Sturm und Drang, an die Freundschaft zweier ungestümer Dichter an der Grenze zum Erwachsensein. Gemeint sind die beiden Straßburger Studenten Jakob Michael Reinhold Lenz (1751 bis 1792) und der um zwei Jahre ältere Johann Wolfgang Goethe, der Name damals noch ohne „von“, wie im Stück ausdrücklich betont wurde. Mit Lukas Goldbach (Lenz) und Milan Pesl (Goethe) waren zwei Darsteller gefunden, die in Sprache und Ausdruck wie geschaffen waren für die Rollen. Die beiden jungen Männer schaukeln sich hoch mit ihren Späßen, Reimen, poetischen Fantastereien. Und das wird mit vielen Effekten und Geräuschen auf die Bühne gebracht. Ob sich die jungen Dichter nun wirklich bei einer holpernden Kutschfahrt durch Straßburg gegenseitig die Gesichter bespuckten, ist dabei zweitrangig.

Alle Chancen vertan

Die Berliner Autorin Katharina Gericke, die bei der Gießener Uraufführung zugegen war, hat diese spaßige Situation in Verse gefasst, wie andere Begebenheiten auch. Sie interessiert der „Bajazzo“ Lenz, der redegewandte und lustige junge Mann, der sich aber mit seinen Clownereien auch jede Chance auf eine ernsthafte Beziehung zu Frauen selbst verspielt. In ihrem Stück zeichnet sie auch den hellsichtigen Dichter, dem der Wahnsinn schon von Kindheit an auf den Fersen ist. Nach der Zurückweisung durch Goethe in Weimar wird sich sein Zustand noch einmal dramatisch verschlechtern.

Denn Goethe verlässt 1775 Straßburg, reist auf Einladung von Herzog Karl-August nach Weimar, Lenz folgt ihm nach, ihm gelingt es aber nicht, in der höfischen Gesellschaft Fuß zu fassen. Wegen einer nicht näher beschriebenen „Eseley“ kommt es zum Bruch mit Goethe, Lenz wird aus Weimar verwiesen.

Und Lugerths Inszenierung gelingt es immer wieder, überraschende Momente ins Spiel zu bringen. Das kleine Holzpodest, Blickfang mitten im TiL-Bühnenbereich, bietet den Akteuren Gelegenheit, sich in den verschiedensten Rollen zu präsentieren: als Puppenspieler, als Tiere, als laute Wahrheitsverkünder: Die Philosophie zählt nicht mehr, gefragt ist jetzt nur noch die Poesie.
Dabei war die Kindheit von Lenz in der herzlosen Pietistenfamilie in Livland alles andere als poetisch. Der grausame Vater quält den jungen Jakob, und der zehnjährige Nachwuchsschauspieler Claudio Mitrovic stellt diese Kindheitsszenen so ernsthaft und glaubwürdig dar, als wäre er ein Großer.

Auch die Mutter kann Lenz keine Unterstützung gegen den autoritären Vater bieten. Petra Soltau überzeugt in der Rolle der uneinsichtigen Mutter, die den Sohn nur ans Haus binden will. Später ist sie nochmals in der Rolle der Charlotte von Stein zu sehen.

Lenz protestiert schon in der Jugend: „Weg mit den Vätern“ und geht eigene Wege, zunächst nach Königsberg, später bis nach Straßburg. Immer wieder taucht in dem Stück eine junge Frau neben ihm auf, zunächst nennt sie sich Cleophe, später Friedericke von Brion, zum Schluss ist es die gestrenge Klosterschwester, die den tobenden Lenz festbindet, damit er sich nicht selbst oder andere verletzt. Alle Figuren, die seltsam ineinander verwoben sind und sich dann gar in „Spuren im Schnee“ verwischen, werden von der wandlungsfähigen und trotz aller Distanz doch immer liebenswürdigen Mirjam Sommer gespielt.

Das Ende ist bekannt: Lenz endet als ein Gescheiterter, Blut im Gesicht kündet auf der Gießener Bühne von seinem traurigen Ende. Der „Dichterfürst“ hingegen erscheint schon zu Lebzeiten als sein eigenes Denkmal, sein Gesicht zeigt weiße Spuren eines Gipsabdrucks. Und so endet die fiktive Geschichte trotz aller Dramatik mit einer kleinen Spur von Ironie – und stellt zugleich einen sehenswerten Beitrag zum Büchner-Jahr in Gießen dar.

Ursula Hahn-Grimm, 15.04.2013, Gießener Anzeiger