Am Donnerstag hatte „Kaspar Häuser Meer“ im TiL Premiere - Gießener Anzeiger

15.10.2012

Satire von der ganz bitteren Sorte ist derzeit auf der Bühne des Theaters im Löbershof (TiL) zu sehen. Denn am Donnerstag hatte dort das Schauspiel „Kaspar Häuser Meer“ von Felicia Zeller in einer Inszenierung von Malte C. Lachmann Premiere. Und am Ende gab es reichlich Applaus für das Dreipersonenstück, das den Alltag in einem Jugendamt unter die Lupe nimmt und dabei zwischen unbedarfter Situationskomik und heftiger Ironie hin- und herpendelt.

Mehr noch: Zellers Drama, das mit Lachmann der diesjährige Gewinner des „Jurypreises des Körber Studios Junge Regie“ inszeniert hat, ist eine heftige Anklage, die ihre Deutlichkeit gerade aus den Elementen der klassischen Tragikomödie bezieht. Ins Visier genommen wird eine notorische Überforderung der Amtsmitarbeiterinnen, die durch Überlastung, persönliche Nöte und Personalengpässe überhaupt nicht die Zeit dazu haben, sich im Einzelfall um ihre Schutzbefohlenen zu kümmern. Was daran witzig ist? Auf den ersten Blick die Sprache, bei der Zeller auf Realismus pur setzt. Hier spricht keine der Figuren ihren Satz zu Ende, und dem Zuhörer fliegen im wahrsten Sinne die Sprachfetzen um die Ohren. Eine Satzstruktur von Subjekt, Objekt und Prädikat? Die ist weitgehend aufgehoben.

Zugegeben, das klingt anstrengend, ist aber zunächst witzig, denn dieser Bürojargon, der tatsächlich im Arbeitsstress nichts Ungewöhnliches ist, haucht der Groteske ordentlich Rasanz ein. Das Publikum wird wahrhaft mitgerissen, wenn die Verwaltungsangestellten Anika, Anne-Elise Minetti herzergreifend als Bürofrischling, Barbara - Petra Soltau glänzt als „alter Bürohase“ - und die restlos überforderte Silvia, lebensecht: Mirjam Sommer, sich im Stakkato-Stil die Bälle zuwerfen. Und dabei im Vorbeigehen die eine oder andere Pointe raus hauen - dem Premierenpublikum gefiel es, ebenso wie die Büromeditationsminute, die von psychedelischen Klängen flankiert wurde. Kurzum, der Büroalltag ist treffend pointiert und humorvoll in Szene gesetzt, übrigens auch durch Bühne und Kostüme von Udo Herbster.

Kühle Sachlichkeit

In Sachen Bekleidung setzt er im Wesentlichen auf Alltagsklamotten, und die Rampe verströmt eine Aura von kühler Sachlichkeit. Drei Schreibtische mit Bürostühlen, Wände mit weißen Aktenordnern und reichlich Schreibutensilien - viel mehr steht den Schauspielerinnen nicht zur Verfügung. Also: Realismus mit maßvoller Abstraktion auch im Bühnenbild und damit noch mal zurück zur Sprache, dem Einfallstor des Tragikomischen. 

Denn das, was beim ersten Hören lustig klingt, ist ja in Wirklichkeit ein Zeichen für eine Art von Hospitalisierung. Anders formuliert: Die drei Damen wirken wie aufgezogene Automaten, die das menschliche Miteinander, das sich eben auch in echter Kommunikation ausdrückt, zugunsten des stressigen Büroalltags aufgegeben haben. Hier setzt die Tragödie ein. Und von Minute zu Minute wird es bitterer, wenn Zeller und Lachmann hinter die Fassaden der Jugendamtsmitarbeiterinnen schauen und etwa den Verdacht auf Alkoholismus, die aus Zeitdruck resultierende vermeintliche Misshandlung des eigenen Kindes oder pathologische Helferkomplexe zutage fördern. Tragischer Höhepunkt: Im Arbeitsstress ist die mehrjährige sexuelle Misshandlung eines Kindes schlicht nicht wahrgenommen worden. Kurzum, Dramatikerin und Regisseur haben sich eines brandaktuellen Themas angenommen, denn auch bei tatsächlichen Fällen von Kindesmissbrauch ist ja häufiger die Frage zu hören, was das Jugendamt in der Sache unternommen hat. Mit Rasanz und Finesse thematisiert „Kaspar Häuser Meer“ die Situation derer, die eigentlich zuständig sind, um eine Antwort zu geben: Durch übermäßige Arbeitsbelastung können die Angestellten häufig nicht adäquat regieren. Hut ab vor dieser pointierten Gesellschaftskritik, bei der von Bühne über Kostüme bis zur schauspielerischen Leistung alles stimmt. Wer sich selbst davon überzeugen möchte: Weitere Aufführungen finden statt am 4. und 23. November und 14. und 27. Dezember, jeweils um 20 Uhr. Informationen auch im Internet unter www.stadttheater-giessen.de.

Stephan Scholz, 13.10.2012, Gießener Anzeiger