Beim Streit der Narzissten geht die Literatur flöten - Gießener Anzeiger

19.10.2012

Nur wenige Tage nach der Berliner Uraufführung ist Cathérine Miville mit Yasmina Rezas neuem Stück „Ihre Version des Spiels“ in Gießen erfolgreich.

Was ist Literatur? So lautet die Frage, die der Philosoph Jean-Paul Sartre 1947 in seinem gleichnamigen Essay gestellt hat. In ihrem neuen Stück „Ihre Version des Spiels“ greift Erfolgsautorin Yasmina Reza diese Frage auf, um allerdings zu ganz anderen Ergebnissen als ihr Landsmann zu kommen. Am Samstag hatte das Schauspiel, das erst Anfang Oktober am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt wurde, am Stadttheater Premiere. Um es vorwegzunehmen: Es gab reichlich Applaus für die Inszenierung von Intendantin Cathérine Miville, die vor allem auf das Psychische setzt.
Während Sartre die Literatur als Mittel des Engagements für etwas etabliert, wird sie bei der aktuell weltweit meistgespielten Dramatikerin lediglich zur Spielwiese für die Akteure eines pervertierten Kulturbetriebs.

In die Zange genommen

Im Mittelpunkt steht die ansonsten publikumsscheue Erfolgsschriftstellerin Nathalie Oppenheim, die sich zu einer Lesung in der französischen Provinz bereit erklärt hat. Schauplatz ist eine nüchterne Mehrzweckhalle in der Kleinstadt Vilan-en-Volène, in die der Stadtbibliothekar Roland Boulanger, den Roman Kurtz als verträumten Literaturliebhaber spielt, regelmäßig zu Lesungen einlädt, bei denen Autoren ihre Werke vorstellen. Carolin Weber glänzt als kauzige und später um ihr Werk ringende Schriftstellerin, die bei dieser Veranstaltung völlig unerwartet in die Zange genommen wird. Die Rezitation wird nämlich flankiert von einem Interview der berühmten Kulturjournalistin Rosanna Ertel-Keval, der Ana Kerezovic beinharten Egoismus und erschreckende Kälte beigibt. Nach Abschluss der Lesung findet noch ein Empfang mit dem fahrigen Bürgermeister statt, den Harald Pfeiffer als selbstverliebten Narziss spielt.

Interessant ist nun, dass es bei der ganzen Veranstaltung gar nicht so sehr um Oppenheims neuen Roman „Land des Überdrusses“ geht. Yasmina Reza hat vielmehr das Ringen um Deutungshoheit als Spiegelbild der Selbstverliebtheit der Beteiligten auf die Bühne gebracht.

Kontrahenten sind vor allem die Autorin, die dem Werk autobiografische Züge abspricht und es für sich selbst betrachten möchte, während Ertel-Keval wie eine Wühlmaus ständig nach Parallelen im Leben und Werk von Nathalie Oppenheim sucht. Bei diesem Schlagabtausch geht der Sieg nach Punkten klar an die Journalistin. Mit ihrer sensationslüsternen Festlegung des Textes, der als Verklausulierung des Schriftstellerlebens zementiert wird, beraubt sie die Literatur um ihr zentrales und wichtigstes Merkmal: Mehrdeutigkeit. Das Werk wird zu einer journalistischen Quelle degradiert und auf die Persönlichkeit Oppenheims reduziert, was übrigens in ihrer jeweils eigenen Art und Weise auch der Stadtbibliothekar, der mehr in die Autorin als ihr Werk verliebt zu sein scheint, und der Bürgermeister, der sich in seiner Selbstliebe bloß persönlich im Roman wiederfindet, tun.

Brillant und aufrüttelnd

Kurzum, nach Reza ist Literatur in der öffentlichen Diktion nur noch ein Sammelbecken von Eitelkeiten des Kulturbetriebs, das keinen Selbstwert mehr hat. Die Idee, diese tatsächlich zu beobachtende Entwicklung, die Kunst als Mittel zum Zweck diffamiert, zum Thema von Kritik zu machen, ist brillant und rüttelt auf - auch dank der gelungenen Inszenierung, die Miville und ihr Ensemble auf die Bühne bringen.

Wechselnde Perspektiven

Neben der durchweg guten schauspielerischen Leistung glänzt sie vor allem durch die Kostüme und das Bühnenbild von Heiko Mönnich. Die Personen tragen Alltagsgarderobe und klischeehafte Accessoires wie etwa den obligatorischen Schal, der beispielsweise den Stadtbibliothekar schon augenfällig als typischen Angehörigen des Kulturbetriebs karikiert. Besonders gelungen ist jedoch das Bühnenbild. Mönnich hat eine Reihe meterhoher Rahmen so gestaltet, dass sie während des Spielverlaufs von vier schneeweiß gekleideten Helfern permanent verschoben werden können. Dadurch entsteht laufend eine neue Perspektive auf das Geschehen, das dem Zuschauer besondere Akzentuierungen anbietet und Brüche in der Befindlichkeit des Personals herausstellt.

Den Montagecharakter der Situation in Vilan-en-Volène - Literatur amalgamiert die Selbstinszenierung der Beteiligten - heben zudem die Videos von Martin Przybilla sehr schön hervor. Auf einen Nenner gebracht: Reza rechnet mit dem zeitgenössischen Kulturbetrieb ab: 65 Jahre nach Sartres Essay ist vom Wert der Literatur nichts mehr übrig. Das ist desillusionierend, allerdings auch aufrüttelnd und in jedem Fall sehenswert. Darüber hinaus ist bislang ein Wort noch gar nicht gefallen: Sensation. Und mit Fug und Recht darf man es benutzen, denn das Stadttheater, das dieses Drama erst als zweite Bühne im deutschsprachigen Raum überhaupt zeigt, ist absolut am Puls der Zeit. Hut ab davor.

Wer das Schauspiel selbst sehen möchte: Weitere Aufführungen finden statt am 19. Oktober, 3. und 25. November, 8., 20. und 28. Dezember, 20. und 26. Januar, 10. März und 7. April jeweils um 19.30 Uhr und am 3. Februar um 15 Uhr im Großen Haus.

15.10.2012, Stephan Scholz, Gießener Anzeiger