»Dornröschen«: Grenze zum Kitsch wird nicht überschritten - Gießener Allgemeine Zeitung

02.10.2012

»Dornröschen«: Grenze zum Kitsch wird nicht überschritten

Eine Produktion für alle Altersgruppen: Das neue Tanzstück in der Choreografie von Tarek Assam hat Premiere am Stadttheater.

Witzig, voller Esprit und Leichtigkeit. Ein Genuss für Augen und Ohren. So oder ähnlich erklang es im Stadttheaterfoyer nach der Premiere des Tanzstücks »Dornröschen« von Tarek Assam am Freitagabend. Dem Gießener Ballettdirektor ist damit eine Symbiose gelungen: zwischen der schweren pathetischen Musik von Pjotr I. Tschaikowski und bekannten Filmmusiken einerseits, zwischen dem in unser kulturelles Gedächtnis eingeschriebenen Märchen von der Prinzessin, die nur von dem einen Prinzen wachgeküsst werden kann, und einer neuen zeitgemäßen Interpretation andererseits. Ein Stück für alle Altersgruppen, Geschlechter und für diejenigen, die dem Bühnentanz reserviert gegenüberstehen.

Dass es ein Märchen ist, das sich in knapp anderthalb Stunden auf der Bühne des großen Hauses entfaltet, bleibt stets im Bewusstsein durch das Gold auf den drehbaren Rückwänden im ansonsten schlichten Bühnenbildentwurf von Fred Pommerehn (Durchführung: Bernhard Niechotz). Dazu kommen nur wenige Requisiten wie Einkaufswagen als Krankentransportmittel und herabhängende bunte Schläuche mit Sauerstoffmasken.

Gabriele Kortmann verwendet gewagt viel Rosa in den Kostümen. Die dominierende Farbe in Jungmädchenzimmern signalisiert deutlich, dass es sich um ein Zitat handelt, die Grenze zum Kitsch wird nicht überschritten. Genau wie in der Choreografie gibt es immer wieder Brechungen, die das Ganze mit Distanz und Amüsement betrachten lassen. Etwa die absurden Perücken der Hofgesellschaft, die aus der Popkultur von Rock’n’Roll über Hippie bis Punk kommen und auch mal Comicstrips entsprungen zu sein scheinen.

Und dann erst die Figurenführung. Ins Herz geschlossen hat das Publikum den König (Marco Barbieri) mit seinem Bäuchlein und seinem abstehenden Haarkranz und wegen seiner charmanten Sprecheinlagen auf Italienisch. Man fühlt sich an den Film »Ein Fisch namens Wanda« erinnert, in dem die Protagonistin am schnellsten in Fahrt gerät, wenn ihr Lover Italienisches von sich gibt. Es klingt einfach nur schön, wenn Barbieri die »Gentili Hospiti« begrüßt und von seinem süßen kleinen Mädchen erzählt, das nun zur großen und umworbenen Schönheit geworden ist.

Überhaupt, dieses Dornröschen. Hat es je ein bezaubernderes gegeben als Mamiko Sakurai? Sie ist so strahlend jung und authentisch in ihrer Freude, dass man es kaum fassen kann. Vor allem aber zeigt sie, wie natürlich zeitgenössischer Bühnentanz sein kann. Die beiden Feen sind dem Stück gemäß auf Kontrast angelegt: die gute Lila-Fee (Hsiao-Ting Liao) begleitet und beschützt die Prinzessin auf zurückhaltende und freundliche Art, während die böse Fee Carabosse in Schwarz (Magdalena Stoyanova) das Kind für sich haben will. Die beiden liefern sich überzeugende, präzis ausgearbeitete, quasi magische Zweikämpfe, in denen sie sich nicht berühren. Stoyanova füllt auch diese Rolle wieder mit großer Intensität. Sie ist mimisch und gestisch immer genau auf den Punkt, vermeidet dabei jedoch marktschreierisches Pathos. Ihre Figur erinnert an die Dualität von »Dr. Jekyll und Mr. Hyde«: Mal ist sie die tierische Version, die sich kriechend und schnüffelnd bewegt, immer ganz nah an den Instinkten dran, dann ist sie der coole Dealer, der mit seinem Drogenköfferchen eine ganze Hochzeitsgesellschaft umschmeichelt und ins Koma versetzt. Sind schon ihre höllischen Auffahrten aus der Tiefe des Bühnenbodens gelungene Gags (zur Musik von »Paulchen Panther«), so ist ihr himmlischer Tanz vom Schnürboden ein zugleich atemberaubender wie spielerischer Höhepunkt nach der Pause.

Hervorzuheben ist auch die gute Ensemblearbeit der Gießener Tanzcompagnie, denn immerhin sind Sieben von Zwölf neu dabei, zwei kamen sogar erst in den letzten beiden Wochen dazu (Michael Bronczkowsi, Yuki Kobayashi). Hinter dem Tanzstück steckt ein enormes Probenpensum und großer Teamgeist. Der erfahrene Tänzer Sven Krautwurst führt die Männerriege an, die in Schickimicki-Version, als machomäßige Brautwerber und als Krankenpfleger während des 100-jährigen Schlafs auftreten: Esteban Barias, Manuel Wahlen, der durch leichte Eleganz besticht, und Keith Chin, der zum wachküssenden Prinzen wird. Lea Hladka ist die hochgewachsene Königin, während die zierliche Caitlin-Rae Crook die wirbelnde, in Orange gekleidete Freundin ist. Das Premierenpublikum dankte mit langem und herzlichen Applaus.

Dagmar Klein, 30.09.2012, Gießener Allgemeine Zeitung