Ein Kinderspiel: Händels »Agrippina« im Stadttheater - Gießener Allgemeine Zeitung

25.03.2013

Das Stadttheater zeigt Händels Oper »Agrippina« als kunterbuntes Kita-Abenteuer. Die Gaststars und das hauseigene Ensemble brillieren.
 
Zippel-zappel, rippel-rappel: Bei Händels »Agrippina« sind im Stadttheater die römischen Herrscher allesamt zu kulleräugigen Kindern aus der Kita um die Ecke mutiert. (Foto: Wegst)
In dieser Gießener Kita herrschen Zustände wie im alten Rom. Es wird intrigiert, gelogen und gehänselt, bis sich die Klettergerüstbalken biegen. Der frühreife Nachwuchs beiderlei Geschlechts vollzieht Blutsbrüderschaften, versucht sich an Doktorspielen und demonstriert präpubertäres Mobbing. Das Geschrei ist groß.

Und wenn der ganze Kladderadatsch wegen des hanebüchenen Originallibrettos auch noch ein versöhnliches Ende findet – würde in einer richtigen Oper nicht wenigstens die Titelfigur sterben? –, gelingt die kindgerechte Inszenierung bis ins Finale.

Dann, als schon das Messer gezückt und Schlimmstes zu befürchten ist, rauscht Tante Sigrid herein und ruft die aufmüpfigen Rabauken lautstark zur Raison. Es wird brav babysprachlich »ei« gemacht, sich pazifistisch an den Händen gefasst und zur Entspannung »Häschen bist du müde« angestimmt – auch wenn es in Wahrheit ein Stück aus der Oper ist. Was nach nonsenshaften Kindereien klingt, ist in der Tat Humor auf hohem Niveau.

Die Premiere von Georg Friedrich Händels Oper »Agrippina« darf das Stadttheater als den herausragenden Erfolg in dieser Saison verbuchen. Kluge Intendanten übernehmen das Stück sofort in die nächste Spielzeit, mitsamt der Glücksgriffbesetzung vom Samstagabend.

Nach kurzen Anlaufschwierigkeiten – Das soll Händel sein? Das ist ein Kindergarten! – platzierte das Auditorium die Lacher an den richtigen Stellen. Vom Esprit und der guten Laune auf der Bühne angesteckt, jubelten die Zuschauer am Schluss minutenlang frenetisch. Für Sänger und Orchester gab es Bravorufe noch und nöcher. Für das Regieteam um Balázs Kovalik hagelte es zudem geballte Buhbekundungen.

Der Ungar hat eine quirlige Inszenierung passend zum eigenen Charakter entworfen und den schweren Stoff um Kaiser Claudio, seinen Stiefsohn Nerone und dessen perfide Mutter Agrippina mit leichter Hand in Szene gesetzt – als wär’s ein Kinderspiel. Auch Händel hätte diese Art von Satire gefallen. Für Puristen freilich hat Gießen-Novize Kovalik mit dem Kindergartenpalast eine Katastrophe zusammengezimmert. Für alle andern darf das Stück in seinem kunterbunten Gewand (Licht: Manfred Wende) als kleines Kunstwerk in einem jedermann vertrauten Kosmos gelten.

Lukas Noll (Bühne und Kostüme) präsentiert des Kaisers neue Kleider: Die eigentlich kapriziöse Agrippina trägt ein putziges Kleinmädchendress, Poppea, hinter der die Nachwuchsmachos alle her sind, ein rosafarbenes Prinzessinenkostüm und die Jungs tapsen in halblangen Latzhosen durch das mit viel Liebe zum Detail gestaltete Bühnenbild, das über Klettergerüst, Rutsche, Stofftiere und weitere brauchbare Utensilien zum Spielen sowie einen Waschraum mit Toilette verfügt. Es wird viel gegessen und getrunken und auch mal mit vollem Mund gesungen – wie das eben so ist im Kindergarten.

Regisseur Kovalik gelingt es, den Operninhalt auf einen Kita-Tag herunterzubrechen. Selbst heikle Textpassagen finden in dieser Pitsche-patsche-Welt ein Fundament. Manchmal hakt es zwar ein bisschen, etwa wenn Ottone in kurzer Hose und in Ringelsöckchen tönt: »Ich bin Herrscher und Geliebter zugleich.« Doch scharf auf Macht und Mädels dürfen sie schon sein, die kleinen Kindsköppe. Dass Countertenöre in einer Frauenlage singen, passt perfekt ins Bild: Im Alter von fünf Jahren ist der Stimmbruch noch weit.

Der zweite Akt beginnt mit dem Kindergartenmittagsschläfchen und einer albträumenden Agrippina – eine der schönsten Szenen des Abends, wenn plötzlich Stoffkrokodil, -hase und -teddybär sich in der Fantasie der Herrscherin zu bewegen beginnen. War das nicht damals oft so in unser aller Träumen? Dann fluppen noch unzählige Origami-Kraniche von der Decke herab – Kovaliks Kindereien haben nicht nur Witz, sie haben auch Charme.

Unter der musikalischen Leitung von Generalmusikdirektor Michael Hofstetter bewies das um Alte-Musik-Experten ergänzte 30-köpfige Philharmonische Orchester mit Cembalo, Barockharfe, zwei Blockflöten und zwei Lauten Feingefühl für das Sujet. Der Sound aus dem auf halbe Höhe hinaufgefahrenen Graben passte perfekt. Die Musik hatte Klasse. Ebensolches lässt sich über die hochkarätigen Gesangsleistungen sagen.
In der Rolle des Nerone debütierte Sopranist Valer Barna-Sabadus mit lupenreiner Intonation. Ihm in nichts nach stand in der Partie des Ottone Altist Terry Wey – beide waren zum ersten Mal in Gießen. Nach ihrem Debüt als Leonora in Verdis Oper »Oberto« sang sich Sopranistin Francesca Lombardi-Mazzulli in der Titelpartie mit Koloraturübungen erneut in die Herzen der Zuschauer. Das gilt auch für die mimisch überragende Haussopranistin Naroa Intxausti als Poppea.

Als Kaiser Claudio kehrte Hans-Christoph Begemann an seine alte Wirkungsstätte zurück – der Bariton gab 1992 sein Debüt am Stadttheater. Als Narciso bezauberte Sora Korkmaz neuerlich in einer Hosenrolle, während Tomi Wendt als Pallante den schärfsten Schalck von allen im Nacken hatte. Nicht zu vergessen die von Regisseur Kovalik dazuerdachte Erzieherin Tante Sigrid (köstlich: Sebastian Songin).

Händels »Agrippina« im Kindergarten, das ist großes Barockkino für (fast) die ganze Familie. Unbedingt ansehen!

Manfred Merz, 25.03.2013, Gießener Allgemeine Zeitung