Ein starkes Stück Schauspielkunst - Gießener Anzeiger

03.09.2012

Carolin Weber und Rainer Hustedt als Ehepaar in „Gift“

„Gift“ ist der Titel der neuen Produktion zum Saisonauftakt im Theater im Löbershof (TiL). „Gift“ ist die Geschichte eines Ehepaares, das sich irgendwann nach dem Unfalltod seines kleinen Sohnes trennte und sich nun nach zehn Jahren in einer Friedhofshalle wiedertrifft. Gift soll in den Boden gedrungen sein. Die Angehörigen sind durch ein Schreiben verständigt worden, dass 200 Gräber verlegt werden müssen. „Gift“ umschreibt auch die Atmosphäre, in der sich der Mann und die Frau begegnen: Die alten Vorwürfe sind noch nicht vergessen und können erst langsam im Verlauf des Stückes abgebaut werden. Ein starkes Stück Schauspielkunst von Carolin Weber und Rainer Hustedt. Viel Applaus am Ende für die beiden Akteure, ebenso für die Gastregisseurin Alice Asper und Bühnenbildner Bernhard Niechotz.

„Eine Ehegeschichte“ lautet der Untertitel des viel gespielten Zweipersonenstücks der Niederländerin Lot Vekemans. Eine Tragödie, die vom Umgang mit der Trauer erzählt, aber auch vom Leben und der Liebe und dabei durchaus auch humorvolle Seiten durchblitzen lässt. Ein berührender Song aus dem Off ertönt zu Beginn, doch die gleißend weißen Scheinwerfer machen deutlich, dass es besser nicht zu anrührend werden soll. Hinzu kommt ein weißer Teppichboden, der von der Rückwand über die gesamte Bühne bis in den Zuschauerraum führt. Das Bild von Neutralität und Sterilität komplettieren die weißen Kunststoffstühle. Wer also Tod und Friedhof mit Dunkelheit assoziiert hatte, sah sich getäuscht. Die einzigen Hinweise auf einen Friedhof waren die unzähligen kleinen Koniferen, die gern zur Grabbepflanzung ausgesucht werden und auf der Bühne des TiL vielerlei überraschende Nutzung erfahren. Auch sonst halten das Stück und die Gießener Inszenierung einige unerwartete Wendungen parat.

Soweit zur Umgebung, die zu einem Ort des Kampfes und der Annäherung werden soll. Die Frau betritt als Erste die Bühne, wartet ungeduldig, geht wieder. Inzwischen kommt der Mann herein, telefoniert auf Französisch mit einer unbekannten Person („Oui, moi aussi“): Er hat seine Frau in der Silvesternacht 2000 wortlos verlassen und ein neues Leben in Frankreich begonnen. Sie blieb zurück in den Niederlanden im gemeinsamen Haus. Nun sitzen sie in gebührendem Abstand in der Friedhofshalle nebeneinander und wissen nicht so recht, wie sie ein Gespräch beginnen sollen. „Ich finde es schlimm, dass wir hier sitzen müssen“, klagt sie. Er hat noch positive Erinnerungen: „Ich musste die ganze Zeit an das erste Mal, denken, als ich Dich gesehen habe“.

Die Frau bekommt Hunger und er gibt ihr eine Tüte mit Schokoladenbonbons, die sie sich begeistert - eine Erinnerung an frühere Zeiten - in den Mund steckt. Prompt verschluckt sie sich und spuckt die Süßigkeit hustend wieder aus. Die Zuschauer starren fasziniert nach vorn: Was geschieht bis zur nächsten Vorstellung mit dem weißen Teppichboden? Der Streit auf der Bühne ist mittlerweile in vollem Gange. Sie wirft ihm vor, dass er gegangen sei, und er fragt zurück, warum sie ihn nicht aufgehalten habe. „Du hast nichts getan“, sagt er, und dieser Satz bringt sie zur Raserei. Irgendwann gehen sie sogar aufeinander los, laut, aggressiv, hektisch. Von Trauer keine Spur, das tote Kind ist erst einmal vergessen, die beiden Erwachsenen haben genug eigene Probleme aufzuarbeiten.

„Eine gescheiterte Geschichte“, sagt sie. Er sagt, sie sind ein Mann und eine Frau, die erst ein Kind verloren haben, dann sich selbst und dann einander. Und dann erzählt er, dass er wieder eine Partnerin hat. Sie ist schwanger von ihm. Und er erzählt davon, was ihm wirklich das Leben gerettet hat: Er hat begonnen zu singen, in einem Männerchor. Die Frau lacht fast höhnisch, war sie es doch früher, die die Songs zur Luftgitarre schmetterte.

Doch genau die Lieder sind es dann, die einen schmalen Pfad zur Versöhnung öffnen. Eng umarmt singen sie einen Song, der in ihrem früheren Leben eine Rolle gespielt hatte. Doch mehr will sie in ihrer Trauer nicht zulassen. Denn wie hatte sie doch eine halbe Stunde vorher gesagt: „Leiden macht süchtig, dafür müsste es Entziehungsanstalten geben“. Und so geht sie - das Ende bleibt offen.

Ursula Hahn-Grimm, 03.09.2012 Gießener Anzeiger