Facettenreicher Bilderbogen: Bayern-Saga »Eisenstein« - Gießener Allgemeine Zeitung

15.04.2013

Premiere am Stadttheater: Titus Georgi findet ansprechende Bilder für Christoph Nußbaumeders Stück »Eisenstein«.
 

Es gibt Stücke, die brauchen ihre Zeit, um ihre Geschichte in Ruhe zu entwickeln. Doch wer sich die Muße nimmt, gut drei Stunden lang dem Geschehen aufmerksam zu folgen, der kann einen angenehmen unterhaltsamen Abend erleben. Christoph Nußbaumeders Familienepos »Eisenstein« ist so ein Stück, das viel Raum und Zuhörvermögen verlangt, schließlich spannt der Autor einen stattlichen Bogen über sechs Jahrzehnte und erzählt – so ganz nebenbei – auch noch die Entwicklung der Bundesrepublik vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Jahr 2008.

Zugegeben: Die Verhältnisse sind ein bisschen vertrackt, doch wer sich einlässt, kann in der stimmigen Inszenierung von Titus Georgi im Stadttheater unproblematisch den Ereignissen folgen. Dabei basiert das tragische Missverständnis, das das Lebensglück zweier Familie zerstört, auf einer doppelten Lüge. Auf der Flucht von Böhmen zu ihrem Verwandten nach Bayerisch Eisenstein wird die junge Erna Schatzschneider von einem kurzzeitigen Begleiter geschwängert, erzählt aber auf dem Hof, auf dem ihr Onkel Asam (Harald Pfeiffer) als Knecht arbeitet, das Kind sei von ihrem erschossenen Verlobten. Den Großbauern Josef Hufnagel, dessen Frau Jutta schwer erkrankt ist, lässt sie zudem im Glauben, er sei der Vater des kleinen Georg. So haben Mutter und Sohn in diesen tristen Nachkriegstagen ein Dach über dem Kopf, und Erna wird sogar noch – alles muss letztlich auf dem Land seine Ordnung haben – mit Josefs Bruder Vincenz verheiratet, ein unangenehmer Zeitgenosse, der als strammer Nazi Schuld auf sich geladen hat.

Was nun folgt, ist nicht nur die unglückselige Liebe zwischen dem jungen Georg und Gerlinde, der gemeinsamen Tochter von Josef und Jutta, die jäh endet, als Gerlinde von der vermeintlichen Blutschande erfährt. Es ist auch der Aufstieg eines Kuckuckskinds vom fleißigen Arbeiter im Sägewerk in der tiefsten Provinz zum millionenschweren Unternehmer im strahlenden München. Dabei bleibt Georg Schatzschneider nicht der Einzige, der den Absprung in die Metropole schafft. In seinem Fahrwasser schippern Verwandte und Freunde, über die er ganz nach Belieben verfügt.

Nußbaumeders Sprache ist einfach, direkt und alles andere als geschwätzig. Der 1978 in Niederbayern geborene Dramatiker, der heute in Berlin lebt, schreibt klar strukturiert, genau beobachtend, knapp skizzierend und keinesfalls intellektuell abgehoben. Deshalb wird er gern als kritischer Volksdichter in der Tradition eines Franz Xaver Kroetz oder Martin Sperr eingeordnet. Der Dialekt spielt eine untergeordnete Rolle, findet eher Ausdruck in der typischen wortkargen Mentalität der Menschen vom Lande, die plötzlich auf das Schlappmaul des Kohlenpottlers Lothar oder auf die feinen Leute in der Stadt treffen. Auch das Düstere, Mystische wie in »Tannöd« von Andrea Maria Schenkel sucht man in »Eisenstein« vergeblich.

Georgi, der zuletzt in Gießen »Die Orestie« von Aischylos ansprechend in Szene setzte, findet auch diesmal wieder den richtigen Rhythmus, den passenden Takt, um den facettenreichen Bilderbogen von Liebe, Macht, Mord und Krankheit packend zu entfalten. Dabei ist ihm bei den raschen Szenenwechseln nicht nur die Drehbühne hilfreich, auf der Katja Wetzel die symbolischen Strohballen nach und nach abräumen lässt, um die Glaswand einer schicken Villa herauszuschälen. Wesentlichen Anteil an den reibungslosen Übergängen hat die filmreife Musik von Parviz Mir-Ali, der mal mit zarten Klaviertönen, dann mit treibenden Percussionklängen die Handlung voranträgt. Überhaupt stellt sich bei der gut besuchten Premiere am Samstagabend immer mal wieder der Eindruck ein: Das ist der Stoff, aus dem Fernsehserien sind.

Ganz erstaunliche Bühnenpräsenz beweisen zwei jüngere Ensemblemitglieder, die erst seit dieser Spielzeit in Gießen engagiert sind. Anne-Elise Minetti gelingt überaus glaubhaft der Wandel von der jungen pragmatischen Erna, die in der Magd Corin (Kathrin Berg) eine treue Freundin findet, zur reifen Frau, die irgendwann ihrem Gebärmutterkrebs erliegt. Vincenz Türpe verkörpert mit Haut und Haaren den jungen Georg, der mit seinem Schicksal als außerehelicher Bastard hadert, seine Energie zielstrebig in Ehrgeiz umsetzt und nur einmal unbeschwert loslassen kann, als er sich in Gerlinde verliebt. Die zarten Annäherungsversuche der beiden gehören zu den hoffnungsvollen Momenten des ansonsten ernüchternden Alltags. Eine Gratwanderung, die Carolin Weber ganz bezaubernd gelingt, da sie zu Anfang den leicht schüchternen, kichernden Teenager mimt, der sich im Laufe des langjährigen Geschehens zur vom Leben enttäuschten Alten entwickelt.

Hat sich der Regisseur bei der Rolle von Gerlinde entschlossen, den Part nur mit einer Person zu besetzen, gibt es bei Georg einen Schauspielerwechsel, als dieser etwa 30 Jahre alt ist. Hierfür hat der Regisseur eine prägnante Einstellung gefunden: Als Gerlinde aus einer Laune heraus den vierschrötigen Lothar aus dem Ruhrgebiet heiratet, stehen sie sich bei der ausgelassenen Hochzeitsfeier plötzlich stumm gegenüber – der junge Georg Türpes und der ältere von Roman Kurtz. Sie betrachten sich wie ein Spiegelbild, und der eine übergibt an den anderen.

Von da an hat Kurtz die Fäden in der Hand, und er zeichnet einen gestressten Unternehmer mit Herzinfarktpotenzial, der meint, seine Familie genauso managen zu können wie seine Firma. Als Gattin Heidi – attraktiv verkörpert von Ana Kerezovic – ihm zu anstrengend wird, überschreibt er ihr die Villa und den Anlageberater gleich dazu – Jan Uplegger überzeugt in der Doppelrolle des smarten Hans und des umtriebigen Großbauerns Josef Hufnagel. Ex-Schwager Lothar – Rainer Hustedt müht sich redlich mit dem Ruhrpott-Slang – verschiebt er in seinem Unternehmen wie eine Schachfigur. Und seine eigenen Kinder Nikola (wiederum Anne-Elise Minetti) und Albert (Pascal Thomas) vernachlässigt er sträflich.

Dabei ist es genau diese dritte Generation, die sich entwurzelt fühlt, die zu Recht nach ihrer Herkunft fragt, um zu verstehen, warum sie heute so ist, wie sie ist. Die Antwort bleiben ihr nicht selten ihre Mütter, ihre Väter schuldig.

Marion Schwarzmann, 15.04.2013, Gießener Allgemeine Zeitung