Familiensaga mit der Wucht einer antiken Tragödie - Gießener Anzeiger

15.04.2013

Dreieinhalb Stunden, die tief berühren: „Eisenstein“ von Christoph Nußbaumeder in der Inszenierung von Titus Georgi am Stadttheater
Jeder Theaterabend braucht seine Zeit. Dreieinhalb Stunden (mit Pause) sind es in der jüngsten Inszenierung des Stadttheaters, und diese dreieinhalb Stunden haben es in sich. Über eine Zeitspanne von 60 Jahren sieht man ein ganzes Leben vorüberziehen und ist mittendrin in einer Familiengeschichte, wie sie sich überall zugetragen haben kann. Und man ist tief berührt und verfolgt das Geschehen mit Spannung, weil man ähnliche Dorfgeschichten selber kennt oder von ihnen gehört hat. Dieser Ort Eisenstein lässt einen so schnell nicht los.

Bei der Premiere im leider nicht voll besetzten Stadttheater kam die bayerische Familiensaga „Eisenstein“ von Christoph Nußbaumeder (Jahrgang 1978) in der Inszenierung von Titus Georgi mit der Wucht einer antiken Tragödie daher, in der die handelnden Menschen schuldlos schuldig werden. Das in einer Abfolge von kurzen Szenen wie in einem Film ablaufende Geschehen gewann im Lauf des Abends zunehmend an Intensität und hatte das gebannte Publikum fest im Griff. Denn das Gezeigte spielt in unserer eigenen Vergangenheit, in unserer eigenen Gegenwart.

Last der Lüge

Wie ein Fluch lastet eine Lüge auf der Familie des Gutsbesitzers Josef Hufnagel in dem niederbayerischen Dorf Eisenstein an der Grenze zu Tschechien. April 1945: Auf der Flucht vor den herannahenden Russen trifft die junge Erna Schatzschneider einen entlaufenen KZ-Häftling und wird von ihm schwanger. Sie findet Unterschlupf auf Hufnagels Hof, erhält eine Anstellung als Magd und schiebt ihr Kind dem Gutsbesitzer Josef Hufnagel unter. Weil er glaubt, der Vater zu sein, verspricht er, für Erna und den Jungen Georg zu sorgen, wenn sie die Vaterschaft geheim hält. Als sich der heranwachsende Georg in Josefs Tochter Gerlinde verliebt, fürchtet der Vater Blutschande und drängt seine Tochter zur Abtreibung. Gerlinde macht mit Georg Schluss, ohne ihm die wahren Gründe zu nennen. Eine große Liebe wird zerstört, und erst nach Jahrzehnten kommen die wahren Zusammenhänge ans Licht.

Ganz auf den Erzählfluss und die Tragödienkraft der Vorlage vertrauend, setzt Regisseur Titus Georgi das von einem schicksalshaften Netz aus Beziehungen durchzogene Geschehen in ruhigen, geradezu nüchternen Bildern um. Es geht um Liebe, Schuld, Leid, um Mitläufer und Karrieristen, um Nachkriegszeit, Wirtschaftswunder und Wiedervereinigung. Die große Geschichte der Bundesrepublik spiegelt sich in den Einzelschicksalen wider. Und immer wieder stellen sich die Figuren (und auch die Zuschauer) die Frage: Wie wurden wir, was wir heute sind?

Der Wandel vom dörflichen, bäuerlich geprägten Leben in der Nachkriegszeit zum modernen, von Technik und undurchsichtigen Finanzgeschäften bestimmten Alltag lässt sich auch am Bühnenbild von Katja Wetzel ablesen. Auf der leeren, schwarzen Bühne türmt sich zu Beginn ein großer Haufen aus Strohballen. Die werden im Verlauf des Abends immer weniger, bis sie ganz verschwunden sind und einem hohen Eckgestell aus Glas Platz gemacht haben. Ansonsten gibt es nur ein paar Wirtshausstühle, einen langen Tisch und ein schickes Sofa. Eingeblendete Zwischentitel informieren das Publikum über die jeweilige Zeit und den Ort; Musik- und Klangfetzen (Parviz Mir-Ali) stimmen auf die kommende Szene ein.

Mitten ins Herz

Getragen wird die Aufführung natürlich in der Hauptsache von der Sprache, und hier gibt sich Christoph Nußbaumeder in seinen Sprachbildern, in seiner Sprachführung und -dramaturgie als ein Vertreter des Volkstheaters in der Tradition eines Martin Sperr oder Franz Xaver Kroetz zu erkennen. Jeder Satz trifft bei ihm mitten ins Herz. Das mit großem Elan und spürbarer Hingabe spielende Gießener Ensemble zeigt ein ums andere Mal, wie sich aus diesen Sätzen eine ungeheure Intensität gewinnen lässt. Die Darstellung geht auch deshalb unter die Haut, weil die Figuren weder gut noch böse sind, also Alltagsmenschen wie du und ich.

Die junge Anne-Elise Minetti stellt ihre große Wandlungsfähigkeit unter Beweis und bringt das Kunststück fertig, der Figur der Erna über Jahrzehnte hinweg stets glaubhaft Gestalt zu geben, und zwar vom Flüchtlingsmädchen bis zur sterbenskranken Frau, die nur noch ihre Lebenslüge loswerden möchte. Sie zeigt eine von starkem Realitätssinn geprägte Frau in allen Lebensaltern, die sich nicht unterkriegen lassen will. Eine starke Leistung!

Carolin Weber steht ihr in dieser Hinsicht als Gerlinde in nichts nach. Auch ihr nimmt man zu Beginn den naiven Teenager ohne Wenn und Aber ab. Jahre später, wenn die Lebenslüge in ihrem ganzen Ausmaß ans Licht kommt, erlangt sie die Größe einer antiken Heldin.

Eine gute Figur macht auch Vincenz Türpe, der den jungen Georg als ehrgeizigen, ein wenig eigenbrötlerischen Burschen verkörpert. Im zweiten Teil, wenn Roman Kurtz die Rolle von ihm übernimmt, erhält der gereifte Georg die Züge eines kaltschnäuzigen Geschäftemachers.
Als Gast im Ensemble fügt sich Jan Uplegger mit seiner geschliffenen Darstellung des Josef Hufnagel gut in das positive Gesamtbild der Inszenierung hinein. Trotz eines steifen Beins ist sein Josef ein kerniger, soldatischer Typ, dann ein jovialer, sich volksnah gebender Landrat.

Ana Kerezovic spielt Georgs Frau Heidi nicht nur als verwöhntes Luxusweibchen, sondern zeigt auch die Seite der emotional vernachlässigten Frau. Als Gemütsmensch Lothar aus dem Ruhrgebiet trifft Rainer Hustedt den Nagel auf den Kopf, und Harald Pfeiffer steuert vor allem als Gastwirt Konrad einige feine Facetten bei. Pascal Thomas trägt als Gerlindes Sohn Albert die Selbstgerechtigkeit der nachgeborenen Generation zur Schau. Mit einer guten Leistung stellt sich auch Kathrin Berg als treue Seele Corin vor. Die Absolventin der Frankfurter Hochschule ist nun Schauspielpraktikantin in Gießen und verbreitet in dieser Rolle viel Herzenswärme.

Thomas Schmitz-Albohn, 15.04.2013, Gießener Anzeiger