Hypnotische Choreografien - tanznetz.de

10.12.2012

Die Tanzcompagnie Gießen zeigt „Hypnotic Poison – Dinge, die ich keinem erzählte“ von Tarek Assam und Robert Przybyl

Selbst- und Fremdtäuschung gehören zum Alltag jedes Menschen. Es gibt Abstufungen dessen, was man anderen Personen gegenüber preisgibt. Damit lassen sich auch Tabus brechen und Irritationen hervorrufen, was Künstler gern nutzen für ihre Inszenierungen. Umgekehrt gilt: durch lebenslanges Schweigen sind psychische Eigenheiten bedingt oder entstehen gar Krankheiten. Tarek Assam, Ballettdirektor der Tanzcompagnie Gießen, hat dieses Thema unter dem leicht reißerischen Titel „Hypnotic Poison“ choreografisch bearbeitet. Wie schon bei anderen Produktionen in seiner gut zehnjährigen Tätigkeit am Stadttheater Gießen hat er sich mit Robert Przybyl einen Gastchoreografen dazu geholt. Uraufführung war am Freitag 8.12.12 auf der kleinen Bühne im Theater im Löbershof (TiL). Das mehrheitlich junge Publikum klatschte und trampelte, pfiff und johlte am Ende vor Begeisterung.

Robert Przybyl, bis vor kurzem Tänzer in der Gruppe von Urs Dietrich am Tanztheater Bremen, war schon mehrfach in Gießen zu Gast, jeweils zur TanzArt ostwest und mit eigenen Solo-Choreografien. Für ihn war es also die erste Arbeit mit einer Compagnie und er hat seine Handschrift deutlich hinterlassen, nicht zuletzt in der Song-Auswahl mit den drei Stücken der in Polen angesagten Folksängerin Kasia Nosowaska. Songs, die sich durch lange Textpassagen – polnische Gedichte – auszeichnen und eine besinnliche, beinahe melancholische Stimmung verbreiten. So am Ende des gut einstündigen Stücks, das in einem ebenso schlichten wie wirkungsvollen Bühnenbild (Britta Yook) – dominiert von zwei runden Öffnungen und einer weißen Tapete mit dezenten Gewehrmotiven. Geld und Gewalt, Macht über andere – darum geht’s im Leben?

Der Beginn ist hoch dynamisch. Zu rockigen E-Gitarrenriffs von Lenny Kravitz wirbelt die junge Compagnie über die Tanzfläche, was das Zeug hält. Danach geht’s gleich zur Sache: ein Showmaster (Bronczkowski) vergreift sich an einer Tänzerin (Lea Hladka), die zusammengekrümmt am Boden liegen bleibt. Deren Alter Ego oder kleinere Schwester (Caitlin-Rae Crook) träumt sich im Pyjama durch ein Wiegenlied, was mit furchtbaren Schmerzen und Schreien endet. Die vermeintliche Rettung kommt durch einen schwulen Modemacher (ein überzeugender Sven Krautwurst in roten Lackpumps und protzigem Glitzerschmuck), der die beiden für die Show aufhübscht: fortan tanzen sie als Cheerleader und Tabledancer durchs Stück. Dabei gibt es zu Songs von Amy Winehouse und Skunk Anansie ausgesprochen sexy Szenen.

Ein Priester entpuppt sich als geiler Bock, der die Hüllen fallen lässt und fortan im Glitzeroutfit sein Blendwerk betreibt. Marco Barbieri tritt mit einer darstellerischen Qualität auf, die an Stummfilme denken lässt. Eine dichte und berührende Szene der homoerotischen Annäherung zeigen Michael Bronczkowski als schwarzer Showmaster und Esteban Barias als Junge in kurzen Hosen, der seine körperlichen Bedürfnisse entdeckt. Deren Geschichte endet in stiller Trauer und Einsamkeit, während der andere Showmaster ein herzzerreißendes Verzweiflungsdrama durchlebt – Krautwurst zeigt an dieser Stelle sein darstellerisches Können. Die Umsetzung ist deutlich vom Choreografen Przybyl geprägt, in dessen Soli vergleichbare Szenen zu sehen waren.

Es gibt mit Yuki Kobayashi noch eine weitere Tänzerin, die erfolgreich bemüht ist, sich gegen diverse Anmacher zu behaupten: Doch ist es im Ergebnis ein Männerstück, was vielleicht auch am Motiv „The Show must go on“ liegt. Die weibliche Seite dieses Themas muss jedenfalls noch erdacht und choreografiert werden.

Dagmar Klein, 10.12.2012, Tanznetz.de