Neues Reza-Stück am Theater: Es regiert der schöne Schein - Gießener Allgemeine

19.10.2012

Nur wenige Tage nach der Uraufführung am Deutschen Theater in Berlin hat »Ihre Version des Spiels« in der sorgfältigen Inszenierung von Cathérine Miville in Gießen Premiere.

Yasmina Reza, in Paris lebende Autorin mit jüdisch-iranischen Wurzeln, gilt als öffentlichkeitsscheu. Sie gibt nicht gerne Auskunft zu ihren Werken, erst recht nicht zu ihrer Person. Und doch erscheinen vor der Uraufführung ihres neusten Dramas »Ihre Version des Spiels« einige Interviews in renommierten deutschen Zeitungen. Nathalie Oppenheim, die Protagonistin in Rezas Vier-Personen-Stück, ist ebenfalls Schriftstellerin und mag Auftritte vor Publikum auch nicht. Und dennoch nimmt sie die Einladung zu einer Lesung in der französischen Provinz an: »Statt Nein zu sagen, wie immer, sage ich Ja!«, heißt ihre knappe Erklärung dazu.

Nun, Gießen ist nicht Vilan-en-Volène, aber eben auch Provinz. Also das passende Stück am passenden Ort. Und beherzt griff Intendantin Cathérine Miville zu, nur wenige Tage nach der Uraufführung am Deutschen Theater in Berlin Rezas jüngstes Schauspiel am Stadttheater Gießen in Szene zu setzen.

Eines ist nach der Premiere am Samstagabend klar: »Ihre Version des Spiels« ist nicht so publikumswirksam wie »Kunst« oder »Der Gott des Gemetzels« gestrickt, bei denen es viel zu Schmunzeln gibt über die Macken, die Verbohrtheit unserer Zeitgenossen. Das neue Konversationsstück wird es schwer haben auf deutschen Bühnen, weil es zwar eloquent den Literaturbetrieb ins Visier nimmt, letztendlich aber den nötigen Biss und die satirische Schärfe vermissen lässt – sieht man mal von der vorletzten Szene ab, bei der Reza in der an ihr so geschätzten Manier den abschließenden Cocktail-Empfang nach der Lesung entgleisen lässt.

Es regiert der schöne Schein – auch auf der Bühne. Heiko Mönnich nimmt die Vertracktheit des Stücks in seiner überaus ästhetischen Ausstattung auf: vier mobile eckige weiße Bögen, die sich ineinander verschachteln, quer stellen und nach hinten schieben lassen. Für die passenden Positionen sorgen flinke Geister von einem anderen Stern, »vier Weiße« genannt.

Für ihren Auftritt in der Provinz hat sich Nathalie Oppenheim großstadtmäßig aufgedonnert: ein neues Kleid in Royalblau, hochhackige schwarze Pumps und eine schicke geräumige Handtasche, an der sich die leicht irritierte Schriftstellerin immer wieder festklammern kann. Denn aus dem erwarteten bequemen Lesestündchen wird nichts, hat doch der so freundlich wirkende Stadtbibliothekar Roland Boulanger noch eine angesehene Journalistin zu der Veranstaltung in die Mehrzweckhalle eingeladen. Und Rosanna Ertel-Keval lässt nicht locker, versucht hartnäckig aus den Figuren des preisgekrönten Romans »Das Land des Überdrusses« Rückschlüsse auf das private Leben der Autorin zu ziehen.

Welch ein Potenzial, denkt man nur an die gerade zu Ende gegangene Frankfurter Buchmesse mit ihren vor Eitelkeiten strotzenden Talkrunden. Doch Rezas Ausführungen wirken arg kopflastig, kunstvoll erzählt zwar, aber mit Klischees behaftet und lediglich an der Oberfläche kratzend. Sie legt die Lunte, aber das Feuerwerk zündet nicht. Daran kann auch die äußerst sorgfältige Inszenierung von Cathérine Miville nichts ändern, die – hübsch anzusehen – mit der Verschiebung der Perspektiven spielt, aber letztendlich nicht das Aha-Erlebnis herbeizaubern kann, das sich bei Rezas früheren Werken wie von selbst einstellte. Auch das Premierenpublikum reagierte am Samstagabend mit anerkennend herzlichem, aber keinesfalls überschwänglichem Beifall.

Carolin Weber, der die in der vergangenen Spielzeit eingelegte »Kreativpause« sichtlich bekommen ist, erstrahlt als Autoren-Diva mit großem Auftritt. Ihre Nathalie Oppenheim lässt sich nicht so schnell aus der Reserve locken, obwohl ihr einige Fragen der Journalistin unangenehm sind. Dezent macht Weber die Angst der Schriftstellerin deutlich, man könne zu sehr hinter die Fassade schauen, ihr wahres Ich entblößen. Ein schönes Bild, wie sie sich selbst per Videoprojektion auf Großleinwand beim Vorlesen aus dem Roman beobachtet. In letzter Sekunde gelingt es ihr immer wieder, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen – die Eskalation bleibt aus.
Ana Kerezovic, seit vergangenem Jahr fest im Ensemble, darf als zickige Literaturkritikerin endlich einmal zeigen, was in ihr steckt. Sie läuft zu wahrer Höchstform auf, wenn sie genüsslich das iPad zückt, um mit dem passenden Zitat die Verhörte mit den eigenen Worten in die Ecke zu drängen. Kerezovic zeichnet gekonnt das Abbild jener überheblich Fragenden, ohne die jede Talkshow verblassen würde, auch wenn man sie eigentlich nicht leiden kann. Bei diesem Zickenkrieg wird Roman Kurtz als liebenswert höflicher Roland Boulanger ein wenig in den Hintergrund gedrängt, obwohl ja gerade diesem rührigen Beamten die kleine Sensation in der Provinz zu verdanken ist. Versöhnend greift denn auch Kurtz’ Bibliothekar mit Hang zu eigenen Gedichten immer mal wieder beruhigend in den Schlagabtausch ein, bevor hier etwas endgültig aus dem Ruder gerät.

Den Bürgermeister jedoch kann er nicht stoppen: Harald Pfeiffer läuft in einem atemberaubenden Parforceritt zu der Dekadenz auf, die man schon immer bornierten Politikern zutraute.

Marion Schwarzmann, 14.10.2012, Gießener Allgemeine