»Othello« im Stadttheater - Gießener Allgemeine Zeitung

03.09.2012

Das Böse lauert überall und manchmal ist gerade der mein größter Feind, der mir mit einem Lächeln ins Gesicht blickt. Diese Erfahrung macht auch Othello in Shakespeares gleichnamiger Tragödie, mit der am Samstag das Stadttheater die Spielzeit im Großen Haus eröffnete.
Das scheinbare Wagnis, mit der 30-jährigen Karoline Behrens auf eine in diesen Größenordnungen noch unerfahrene Regisseurin und mit Vincenz Türpe als Othellos fiesem Gegenspieler Jago auf einen frisch von der Schauspielschule kommenden Neuzugang im Schauspielensemble zu setzen, gelang – auch wenn die Inszenierung die ein oder andere Schwäche aufwies.

Othello, glänzend gespielt von Roman Kurtz, betritt die Bühne – und macht sich zum Affen. Sein langer Ruf »O« klingt wie Donnerhall von der Rampe, die zu Beginn wie in Shakespeares Globetheatre über die Köpfe der Zuschauer hinaus ragt. Und wie King Kong schlägt er sich voller Inbrunst auf die Brust. Stolz ist er, dass er die schöne Desdemona (liebreizend gespielt von Anne-Elise Minetti) zur Frau nehmen kann. In einer Pantomime erzählen die beiden ihre Liebesgeschichte.

Und dann erscheinen auch schon die Mitglieder der venezianischen Gesellschaft. Die strenge Farbgebung der Kostüme in klarem Schwarz und Weiß, von Kostümbildnerin Anne Buffetrille bis hin zu Jagos Vatermörderkragen konsequent durchdacht, und die Starre, in der die Figuren verharren, lässt zweieinhalb Stunden anstrengendes Stehtheater erwarten. Doch dann hebt sich der Vorhang und die von Bühnenbildner Lukas Noll entworfene blutrote Aufgangsspirale erscheint. Das von Roderik Vanderstraeten mit einer Geräuschcollage symbiotisch unterlegte Spiel kann beginnen und Jago sein Netz aus Lügen auswerfen. Im Strudel der roten Spirale verliert Cassio (Pascal Thomas) seine Ehre bei einer wilden Orgie, Othello und Desdemona präsentieren sich wie ein Hochzeitspaar auf der Torte, der liebeskranke Roderigo (Lukas Goldbach) lässt sich als naiv-willfähriger Helfer vom Intriganten ausnutzen und Jagos Ehefrau Emilia (Mirjam Sommer) wirbelt am Fuß der bühnenhohen Konstruktion mit jenem Tuch, das Desdemona verliert und das Jago als Hilfsmittel dient für sein Schurkenstück, in dem er aus den Tugenden der Menschen Laster macht.

Nach der Pause ist die Bühne dann wieder ein schwarzes Loch. Othello ist ein wenig zu abrupt dem Wahnsinn verfallen und erwürgt Desdemona. Auch Emilia kann mit ihrem gellenden Aufschrei, dass dies alles Jagos Werk ist, daran nichts mehr ändern.

Während im Original der Schurke Emilia tötet und für seine Boshaftigkeit büßen muss, streicht dies Behrens in ihrer Fassung – und lässt das Publikum damit auch ein wenig überrumpelt und desillusioniert zurück. Ihr geht es um Othello, sein Fremdsein ihn dieser Welt, seinen Verlust von Vertrauen, Ansehen und Macht und die menschliche Tragödie, die durch eine einzige Bemerkung oder Handlung ausgelöst werden kann. »Ich bin nicht, was ich bin« betont Jago zu Beginn und am Ende kommt Othello zu der resignierenden Selbsterkenntnis: »Das ist der, der Othello war. Hier bin ich.« Er ist sich selbst fremd geworden.

Fremd bleibt Othello aber auch ein wenig dem Zuschauer. Die schon bald kriselnde Liebe zur sehr viel jüngeren Desdemona wirkt aufgesetzt, und von der angeblichen Stärke dieses Mannes, der als General zu Beginn selbstbewusst den gesellschaftlichen Konventionen trotzt, bleibt schon bald nichts mehr übrig. Dank des eindringlichen Spiels von Kurtz geht die Strahlkraft der Figur aber dennoch nicht verloren.
Die Entdeckung des Abends ist Vincenz Türpe. Ihm gelingt eine Darstellung des Jago, die schaudern lässt. Mit jeder Pore dünstet dieser Intrigant Boshaftigkeit aus. Seine Waffe ist das Wort, sein Erscheinungsbild stets tadellos und nur im Gespräch mit dem lächerlichen Roderigo oder bei kleinen Anmerkungen ins Publikum lässt er sich in die Karten gucken. Beeindruckend, mit welcher Präsenz der junge Schauspieler demonstriert, wie man die Saat des Bösen aufgehen lässt.

Pascal Thomas liefert einen glaubwürdig-verzweifelten, aber aufrichtigen Cassio, Lukas Goldbach zieht seinen Roderigo, wie von Shakespeare gewollt, ins Lächerliche, Petra Soltau zeigt als Herzogin von Venedig, dass man, wie die Intendantin bei der anschließenden Premierenfeier treffend formulierte »die ganze Macht Venedigs in einem Halbsatz« zeigen kann, und Ana Kerezovic hat als Kurtisane Bianca einen markanten Kurzauftritt. Harald Pfeiffer spielt Desdemonas Vater Brabantio und wandelt sich aus unerklärlichem Grund vom seriösen venezianischen Senator zur mit weißer Schminke und Unterhemd durch die Kulissen irrlichternden Figur. Auch Mirjam Sommer ist oft sprachlose Zeugin der Ereignisse, doch wenn sie als Emilia zu Wort kommt, dann tut sie dies mit vehementem Einsatz und Eindringlichkeit. Auch ihre Emilia hat erkannt: Es ist gerade der mein größter Feind, der mir mit einem Lächeln ins Gesicht blickt.


Karola Schepp, 03. September 2012, Gießener Allgemeine Zeitung