Rangeleien, Ringkämpfe und eine Rutschpartie - Gießener Anzeiger

25.03.2013

So viele lachende Menschen sind wohl nur selten beim Verlassen der Oper zu sehen. Dass sich Gastregisseur Balazs Kovalik für seine Inszenierung der Oper „Agrippina“ von Georg Friedrich Händel einen Kindergarten als Schauplatz einfallen ließ, war vorher bekannt. Dass sich aber das Premierenpublikum in einen Kindergarten verwandeln könnte, war nicht unbedingt vorauszusehen. Die lauten Bravo-Rufe am Ende der Vorstellung für Generalmusikdirektor Michael Hofstätter, für das Orchester und die exquisiten Sänger wurden durch ebenso laute Buh-Rufe für den ungarischen Regisseur übertönt.

Zunächst ein Wort zur Musik, zu dem ambitionierten Spiel des Orchesters, verstärkt durch „Alte Musik-Experten“ namhafter Ensembles. Ein Wort zu den wundervollen Stimmen der Sänger. Die Gießener Aufführung glänzte durch hochkarätige Gastsolisten, hinter denen sich die heimischen Kräfte, allen voran die wunderbare Sopranistin Naroa Intxausti, nicht verstecken brauchten.

Starke „Agrippina“

Agrippina, Ehefrau des römischen Kaisers Claudius, die auch der Oper ihren Namen gab, wird durch die ganz hervorragend agierende italienische Sopranistin Francesca Lombardi Mazzulli dargestellt. Ihre klare Stimme überzeugte in den dramatischen Arien ebenso wie in den lyrischen Abschnitten. Ihr Gegenpart ist die schöne Poppea (Naroa Intxausti), mit der sie sich aufs Wunderbarste ergänzte. Bevor die drei Bewunderer von Poppea und zwei Höflinge (Sora Korkmaz und Tomi Wendt) ins Spiel kommen, noch ein Blick auf die Geschehnisse. Händel komponierte seine Oper 1709 speziell für den Karneval in Venedig, als eine Persiflage auf das politische Treiben in Italien.

Das Libretto von Vincenzo Grimani ist im alten Rom angesiedelt: Es geht das Gerücht um, dass Kaiser Claudius (Hans Christoph Begemann) auf seiner Reise nach Britannien in einem Sturm verschollen ist. Seine Gattin Agrippina setzt alles daran, dass Nerone (Valer Barna-Sabadus), ihr Sohn aus erster Ehe, zum Kaiser ausgerufen wird. Doch Claudio kehrt unerwartet zurück und präsentiert seinen Retter, den Feldherrn Ottone (Terry Wey), als Nachfolger. Jetzt hilft Agrippina nur noch die Lüge. Sie hetzt die junge Poppea gegen Claudio und Ottone auf, doch als die junge Frau das Spiel durchschaut, dreht sie den Spieß um.

Der Kindergarten ist hier der richtige Ort, um sich richtig austoben zu können. Rangeleien, Ringkämpfe, eine Rutschpartie, schließlich sogar eine Spinatschlacht: Die Gießener Inszenierung ist sich für nichts zu schade.

Dabei hatte alles so lyrisch begonnen. Schmelzendes Liebeswerben erklingt im Dunklen aus dem Publikumsraum. Aus den Reihen der Zuhörer steht der Schweizer Altist Terry Wey (Ottone) auf und entdeckt in der anderen Hälfte des Saales seine geliebte Poppea (Naroa Intxausti). Zusammen betritt das Paar die Bühne und singt ein Duett, das möglicherweise noch nie aufgeführt wurde, sondern nur in Händels Originalschrift zu finden ist. Auch sonst wurde im Ablauf der Oper einiges geändert oder gestrichen. Aus drei Akten werden zwei Teile, insgesamt wird die Aufführungszeit der Oper in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln etwas verkürzt.

Zur Ouvertüre, mit Temperament und ganz in barocker Akkuratesse vorgetragen, sieht das Publikum wechselnde Kinderbilder auf einen Vorhang projiziert. Das Licht ändert sich, der Blick auf das Innere eines Kindergartens wird freigegeben. Die „Kleinen“ kommen nacheinander in dicken Jacken und Wollmützen herein. Draußen sieht man Schneeflocken fallen. Nein, in Rom spielt diese Geschichte nicht, sie spielt im Hier und Jetzt, sogar das Wetter stimmt. Tante Sigrid (Sebastian Songin), bei Händel ist diese Rolle nicht vorgesehen, passt auf die Kinder auf, doch ihr entgeht einiges. Dass nämlich Agrippina gleich ihr intrigantes Spiel beginnt. Sie überredet Nerone, sich zum Kaiser krönen zu lassen, und gewinnt Pallante und Narciso als Helfer. Nerone bittet um die Gunst des Volkes (der Kinder), indem er reichlich Bausteine verteilt. „Qual pacer à un cor pietoso“: Der Counter-Tenor Valer Barna-Sabadus singt das ergreifende Lied mit feinsten Nuancen in schwieriger Höhenlage. Das Publikum ist begeistert und spendet Zwischenapplaus, von dem im Lauf der Vorstellung weitere folgen.
Poppea im rosa Kleidchen schmückt sich mit bunten Perlen. „Vaghe perle, eletti fiori“: Auch nach dieser überragend vorgetragenen Arie bedankt sich das Publikum mit Zwischenapplaus bei der Sopranistin des Stadttheaters. Auch Gastsängerin Francesca Lombardi Mazzulli weiß zu gefallen. „Non ho cor che per amarti“: Mit dieser leidenschaftlich und in schönster Klangreinheit gesungenen Arie versichert Agrippina heuchlerisch ihre Freundschaft.

Claudio zieht im Triumph im Kindergarten ein, er trägt einen glitzernden Kasperhut. Der kräftige Bariton dominiert die Szene: „Io die Roma il Giove son“. Die Erzieherin bringt einen Kuchen mit brennenden Kerzen herein: die Kinder feiern ausgelassen, nur Ottone wird (nach Agrippinas Ränkespiel) von allen zurückgewiesen. Verzweifelt flüchtet er sich auf die Toilette und trauert in herzergreifenden Tönen („Voi, che udite il mio lamento“) seiner Geliebten nach.

Die Vorgänge im alten Rom beziehungsweise im Kindergarten nehmen ihren Lauf. Ottone wird rehabilitiert, und Nero rastet vor Eifersucht aus. Die Kinder prügeln auf ihn ein, die Erzieherin erscheint und ist fassungslos über den Tumult. Alle Kinder müssen sich an den Händen fassen, sie singen gemeinsam den Abschlusschor.

Mit viel Liebe zum Detail hat Lukas Noll das Bühnenbild entworfen. Spielgeräte, Plüschteddys, unzählige bunte Papiervögel an der Decke: Hier ist ihm wieder einmal ein Meisterwerk gelungen.

Doch das Publikum haderte mit der Inszenierung. Der kunterbunte Pille-Palle-Kindergeburtstag lenkte allzu häufig von den grandiosen musikalischen Leistungen ab. Und von sexuellen Leidenschaften („Sex and the City im alten Rom“) und politischem Machtkampf („Das politische Parkett als Bühne“), wie auch im Programmheft angesprochen, war in der Kinderstube nicht viel zu entdecken. Doch allzu streng sollte das Publikum mit dem international anerkannten Regisseur Balazs Kovalik nicht umspringen. Das Stück rund um die Themen Macht und Intrige ist schließlich konfus genug, um in einem Kindergarten angesiedelt zu sein. Die Kleinen weigern sich, erwachsen zu werden und die Konsequenzen für ihr Tun zu übernehmen. Das kann böse Folgen haben.

Ursula Hahn-Grimm, 25.03.2013, Gießener Anzeiger