Seelenpein ist spürbar - Premiere für Shakespeares „Othello“ in Gießen - Wetzlarer Neue Zeitung

06.09.2012

Es sind die tiefsten menschlichen Abgründe, die seit vergangenem Wochenende im Stadttheater Gießen zu erleben sind. Doch halt, nicht falsch verstehen: Abgründig ist hier nicht als kritisches Urteil gemeint. Oder vielleicht doch. Dann allerdings im Sinne von „absolut sehenswert“, denn in ihrer Inszenierung von „Othello“, die am Samstagabend Premiere hatte, hat Regissseurin Karoline Behrens die quälende Seelenpein des venezianischen Feldherren fein herausgearbeitet.

Von Anfang an wird deutlich, dass er Behrens in allererster Linie um Seelenzustände der Hauptfiguren geht. Vor puristischer, aber sehenswerter Kulisse von Lukas Noll, der im Wesentlichen eine erhöhte Rampe und ein mehrstufiges Podest vor farbigem Hintergrund geschaffen hat, rücken vor allem die Charaktere in den Blickpunkt.
Historisches Kolorit? Kriegsgerät? Das gibt es nicht in dieser Inszenierung, die mit einem hohen Maß an Abstraktion arbeitet. Was übrigens sehr wohltuend ist, denn durch den sparsamen Einsatz von Requisite und die häufig als gehobene, im Hell-dunkel-Kontrast akzentuierte Alltagsgarderobe (Kostüme Anne Buffetrille) wird der Blick ganz auf das Psychische gelenkt. Das gibt dem Zuschauer die Möglichkeit, mitzufiebern, wenn General Othello, den Roman Kurtz zu Beginn souverän und maßvoll emotional als militärischen Anführer und frischgebackenen Ehemann spielte, zunehmend der Eifersucht verfällt. Verheiratet mit Desdemona (Anne-Elise Minetti) brechen die beiden zum Feldzug gegen die Türken nach Zypern auf. Hier nimmt das Schicksal seinen Lauf, und die Eifersucht mordet am Ende die Liebe. Allerdings nicht von selbst: Der rachsüchtige Schurke Jago, den Vincenz Türpe spielte, sät tödliche Zwietracht. Nach und nach zieht sich die Schlinge um die Liebenden zu; diesen Konflikt hat das gesamte Ensemble glänzend umgesetzt.
Allen voran Kurtz, der den Persönlichkeitswandel vom liebenswerten General zum wahnsinnigen und gewalttätigen Gatten erschreckend realistisch auf die Bühne brachte und in Minetti als zunehmend verzweifelter Desdemona die richtige Partnerin hatte.
Dritter im Bunde ist Türpes Jago: sarkastisch, nihilistisch, feinselig. Hut ab vor dieser unterschwelligen Bösartigkeit, die er gekonnt hinter Unschuldsmienen verbarg. Flankiert wurde die gute Darstellung von psychedelisch anmutenden Sequenzen, in denen die Akteure vor buntem Schummerlicht wild durcheinander tanzten oder auch mal nur Laute von sich gaben.
Noch zu Beginn wirkte das verstörend, doch im Gesamtkonzept der Inszenierung stellten sich diese Passagen als gelungene Zuspitzung von Emotion heraus, dass das Publikum Stück für Stück mit den Schauspielern in Othellos Albtraum schlittern konnte.
Kurzum: Mit ihrer Inszenierung hat Behrens dem Stadttheater einen Spielzeitauftakt nach Maß beschwert, der mit viel Beifall honoriert wurde.

Stephan Scholz, 04. September 2012, Wetzlarer Neue Zeitung