Sieg in der Spinatschlacht - Überraschend intelligent: Händels „Agrippina“ in Gießen als Kindergarten-Geschichte - Frankfurter Rundschau

26.03.2013

Nach und nach kommen die Kinder und fangen an zu spielen, allein oder miteinander. Tante Sigrid begrüßt sie und überlässt dann die Racker sich selbst. Aber im Kindergarten geht es nicht nur lustig und aufrichtig zu. Von einem toten Kaiser Claudius ist zu hören, die kleine Agrippina zettelt eine Intrige an, damit ihr Favorit Nero Claudius‘ Nachfolger werde, aber auch Otto hat Ansprüche. Und Fragen wie die, wer wen gerade liebt und wer wen nicht und wer wen wie betrügt und hintergeht, spielen eine wichtige Rolle.

Claudius ist dann doch nicht tot, und am Ende sieht es für einen Augenblick so aus, als könnte es jetzt ganz ernst und fies werden. Aber da kommt Tante Sigrid als Göttin aus der Maschine und bildet einen Sing- und Spielkreis. Und alles wird doch noch gut.

Ein bisschen überraschend ist es schon, dass dies der Plot von Händels „Agrippina“ sein soll. Ist es aber. Und das Erstaunliche ist: die barock-antike Intrigengeschichte funktioniert in dieser Erzählweise, in der Balászs Kovalik sie im Stadttheater Gießen inszeniert hat, ganz ausnehmend gut. Das kommt vor allem daher, dass Kovalik und das Ensemble die Kindergarten-Folie sehr ernst nehmen. Nichts in diesem munteren, bunten Kinderkram ist nur so nebenher gestaltet, alles stimmt und passt, weil wirklich nur Kindsköpfe mit so viel Hingabe Intrigen gestalten können, und Lukas Nolls Ausstattung ist von großer Liebe zum Detail durchzogen.

So wird die Geschichte mit Vehemenz gegen ihren Strich gebürstet, und die überhöhten Emotionen, von denen Händels Arien künden, bekommen einen tiefen Sinn, der für jeden, der je eine zentraleuropäische Kindheit erlebt hat, nachvollziehbar ist.

Aber die irritierende Erzählweise ist nur eine Komponente dieser Inszenierung. Eine andere ist ihre musikalische Qualität, die, mit dem eigentümlichen Vokabular des Librettos, permanent eine Kontrastwirkung zum Teddy-und Spinatschlacht-Gewusel herstellt.
Den Spaß ernst nehmen

Die sängerische Besetzung der fünf Hauptpartien ist bemerkenswert. Francesca Lombardi Mazulli und Naroa Intxausti sind als Agrippina und Poppea ein Intrigantinnenpaar auf einem sängerischen Niveau, wie man es nicht allzu oft erleben kann. Der hohe Counter Valer Sabadus als Nerone und der Altus Terry Wey als Ottone geben die tragischen Figuren des Stücks, die im Intrigenofen der Damen verheizt werden, mit einer Ausdrucks-Intensität und einer Virtuosität der Koloraturengestaltung, die zu der Chance, den Spaß ernst zu nehmen, entscheidend beitragen. Hans Christoph Begemann als Claudius brilliert mit herrscherlichem Bariton.

Das erweiterte Philharmonische Orchester Gießen unter der Leitung von Michael Hofstetter präsentiert sich in ausgezeichneter Form. Aus dem Graben kommt vorbildlich transparente, dynamisch und agogisch überaus differenzierte barocke Klangpracht, und die Secco-Rezitative werden mit kristalliner Sensibilität begleitet. Und so kindergartenhaft das Bühnengeschehen auch ist, es bringt die Sängerinnen und Sänger nicht in Situationen, in denen sie sich gegen ihre Bewegungsweisen stemmen müssen.

Hans-Jürgen Linke, 26. März 2013, Frankfurter Rundschau