Starke Bilder der Geheimniskrämerei - Gießener Anzeiger

10.12.2012

Kräftiger Applaus für Tanzstück „Hypnotic Poison“ im TiL

Es sind einschüchternde Bilder, die Tarek Assam und Gastchoreograf Robert Przybyl im Theater im Löbershof (TiL) auf die Bühne bringen. Denn in ihrem Tanzstück „Hypnotic Poison - Dinge, die ich keinem erzählte“ blicken sie hinter die Maske von Menschen, um deren Geheimnisse aufzudecken. Dabei kommen sie zu teils schauerlichen Erkenntnissen, doch gerade das macht den Reiz der Inszenierung aus, für die es bei der Premiere am Samstag kräftigen Applaus gab.

„Hypnotic Poison“ betört durch eine unwiderstehliche Anziehungskraft, die sich aus der Bildersprache des Stücks und seinem Schwung speist. Der entwickelt sich von der ersten Minute an, wenn Assam und Przybyl ihr Ensemble mit den Tänzern Marco Barbieri, Esteban Barias, Michael Bronczkowski, Caitlin-Rae Crook, Lea Hladka, Yuki Kobayashi und Sven Krautwurst zu einer ersten Massenszene auf die Bühne schicken. Bei temporeichen Beats wird der Abend mit einer kraftvollen Choreografie eröffnet, bevor sich die eigentlichen Geschichten, die musikalisch beispielsweise durch Songs von Lenny Kravitz, Skunk Anansie oder Amy Winehouse begleitet werden, in einer raschen Szenenfolge präsentieren.

Und jetzt wird’s richtig gruselig, denn das, was Assam und Przybyl interessiert, sind genau die Geheimnisse, die Menschen sonst verbergen, weil das Risiko einer Aufdeckung sie in ihrer gesellschaftlichen Rolle erschüttern würde. Einige Beispiele: Da wird ein Blick hinter die Fassade eines Pfarrers geworfen, der sich als heimlicher Showmaster zu erkennen gibt. Das Modelscouting wird aufs Korn genommen oder verheimlichte sexuelle Gewalt auf die Bühne gebracht. Für sich genommen sind diese Bilder stark, doch der große Reiz der Inszenierung liegt in der Totalen, die die Geheimniskrämerei an sich unter die Lupe nimmt, und das, was im Verborgenen liegt, in einer Art Sphäre des Dämonischen visualisiert. Und diese Bildersprache, die in berauschenden und höchst emotionalen Choreografien daherkommt, ist exquisit und Tanzkunst auf dem hohen Niveau, das Theatergänger schon seit Langem in Gießen erwarten dürfen.

Flankiert von zwielichtigen Lichteffekten und dem Industriecharme des puristischen Bühnenbildes von Britta Yook, das auf kühle und funktionale Bauteile setzt, entwickeln die beiden Choreografen mit ihrem Ensemble eine Atmosphäre der Morbidität, die zutiefst anrührt. Durch die Wucht und Massivität der tänzerischen Darbietungen entfachen sie einen unglaublichen Sog, der die gesellschaftlichen Fundamente erschüttert. Nichts weniger wird deutlich, als dass sich hinter dem alltäglichen Funktionieren von Menschen eine ganze Sphäre verbirgt, die zwar durch Dämonie tabuisiert ist, allerdings mit bedrohlicher Macht nach außen dringt. Hut ab vor diesem weitsichtigen Blick für die Doppelbödigkeit von Gesellschaft, der gerade wegen seines Schwungs und seiner wuchtigen Bilder nicht nur nachdenklich, sondern auch richtig Laune macht. Wer sich selbst davon überzeugen will: Die nächsten Aufführungen sind am 21. Dezember und am 19. Januar jeweils um 20 Uhr im TiL.

Stephan Scholz, 10.12.2012, Gießener Anzeiger