Uraufführung von Katharina Gerickes »Lenz. Fragmente« - Gießener Allgemeine Zeitung

15.04.2013

Wenn man ein zerbrochenes Gefäß wieder reparieren und kleben will, dann ist es hilfreich, wenn man das Original kennt. So ähnlich geht es auch mit Katharina Gerickes Schauspiel »Lenz. Fragmente«, das nun auf der TiL-Studiobühne uraufgeführt wurde.
 

Wer die wichtigsten Stationen aus dem Leben des 1792 an den Folgen einer paranoiden Schizophrenie gestorbenen Schriftstellers nicht kennt, Georg Büchners »Lenz«-Novelle nicht gelesen oder von den Ideen des Sturm und Drang nicht mehr als eine vage Ahnung hat, der wird sich in den grotesken Szenen des Fragments als Dokumentation eines wahnsinnigen Genies verlieren. Alle anderen können an dem klugen Text und den anspielungsreichen Splittern aus der Vita eines »Lebenden unter den Totgeburten« ihre wahre Freude haben.

Es ist also schwierige Kost, die die Berliner Dramatikerin dem Publikum serviert. Lenz als Junge, der unter seinem pietistischen Vater leidet; Lenz als junger Dichter, der mit Goethe in Straßburg rotzig-freundschaftlich verkehrt und dessen »Ex« Friederike den Hof macht; Lenz als am Weimarer Hof am adeligen Getue Scheiternder; Lenz als geisteskranker Mann, der von Beginn an das Virus vom Verfall in sich trägt. Gericke lässt all diese Facetten des »Punks« des Sturm und Drang aufblitzen – in kurzen Sequenzen. Ihr Text ist blitzgescheit und ein erfrischendes Spiel mit Sprache. Ob Gereimtes im Stil von Wieland oder regelloses Theaterspiel der »wilden Gesellen« Goethe und Lenz auf der improvisierten Kleinbühne – hier gilt jedes Wort, die Stimmung einer Situation ist prompt da. Man ist als Zuschauer sofort in der nächsten Szene drin. Der gesamte Kosmos erschließt sich aber nur dem, der sich ohne Furcht vor Klamauk und Groteske auf das Spektakel einlässt. Und dann kann man auch verstehen, warum der Pfarrerssohn zu Lebzeiten Goethe und posthum Georg Büchner oder Franz Kafka inspiriert hat – und auch heutzutage aus seinem Status als Randerscheinung einer Epoche herausgezogen werden sollte.
 
Christian Lugerth inszeniert Gerickes Schauspiel mit Lust am Verrückten. Fast eineinhalb Stunden wird das Publikum höchst amüsant und experimentierfreudig unterhalten. Wenn sich das quer liegende Bücherregal auf dem von Bernhard Niechotz entworfenen Podest öffnet und die Köpfe der Protagonisten wie aus einer Latrine auftauchen, dann gibt es einen gehörigen Überraschungseffekt. Auch die Drum-Einlagen bei der Theaterposse der wilden Gesellen – der Spirit von Kassadondo weht durch das Theaterstudio – reißen mit. Ein Goethe, der sich trotz historischem Gewand stolz wie ein Rapper den goldenen Adelstitel um den Hals hängt, und Lenz, der das Narrenglöckchen am Handgelenk trägt: Hier gibt es auch im Detail viel zu entdecken. Das Bühnenbild von Bernhard Niechotz mit dem Holzpodest samt Buchregal und dem abseitigen Salon der Frau von Stein, ergänzt durch die vom 18. Jahrhundert inspirierten Kostüme, geben der großen Spielfreude der Schauspieler genügend Raum.

Ein bisschen verliert sich die Inszenierung gegen Ende hin jedoch im dadaistischen Spektakel. Wenn Lenz in seinem schizophrenen Schub dem Irrsinn verfällt, dann entgleitet er nicht nur sich selbst, sondern auch dem Publikum. Irres Lachen erklärt nicht wirklich, an welchen Schrecken der Welt dieser Mann verzweifelt. Und warum bleibt Goethe bis zu Lenzens bitterem Ende – eine Kettensäge erklingt, wenn der »Baum fällt« – gemeinsam mit Charlotte von Stein auf der Bühne? Und warum pusten die beiden weißen Staub durch die Luft?

Lukas Goldbach spielt den Dichter im psychischen Sturzflug mit erfrischender Unbekümmertheit. Sein Faible für eine auch mal ins Komische abgleitende Überzeichnung der Figuren: Hier kann er es ausleben. Sein Lenz ist und bleibt ein kleiner Junge, der mit dem Leben nicht wirklich klar kommt. Lenz als Kind wird übrigens von Claudio Mitrovic gespielt, der sich der Sympathien des Publikums von der ersten Minute an sicher sein kann und auch als Wahnvorstellung Lenzens am Ende überzeugt.

Dass das Verhältnis Goethe und Lenz von Freundschaft, aber auch von bitterer Konkurrenz um beruflichen Erfolg wie um die Gunst der Frauen geprägt war, das kommt im Zusammenspiel Goldbachs und Milan Pešls glaubwürdig rüber. Pešl zeigt den späteren Geheimrat als doch recht unsympathischen Aufsteiger, der in seinem Sonnensystem kein weiteres Genie dulden will. In den Wortgefechten der beiden wird aber deutlich, dass hier eigentlich zwei Seelenverwandte aufeinandertreffen.

Es sind die Frauen, die in »Lenz. Fragmente« wahrhaft vernünftig sind. Petra Soltau hat als damenhafte Charlotte von Stein einen prägnanten Dauerauftritt. Mirjam Sommer kann sowohl als schlagfertiges Frauenzimmer Cleophe als auch als Lenzens im wahnhaften Schub patenter Beistand Veronika überzeugen.

Dramatikerin Katharina Gericke kann sich gewiss sein, mit ihrem Stück einen Beitrag dazu geleistet zu haben, dass Jakob Michael Reinhold Lenz wieder mehr in das Interesse rückt. Die von ihr gewählte Form des Fragments – leider im Titel ein wenig sperrig untergebracht – ist genau die Richtige, um zu zeigen, wie viele Facetten dieses Dichterleben zu bieten hatte und wie schwer es Lenz gefallen ist, die Balance zwischen Genie und Wahnsinn zu halten. Er war eben ein wahrhaft wilder Geselle – und der kann sich auch schon einmal im freien Fall verlieren und zerbrechen.

Karola Schepp, 15.04.2013, Gießener Allgemeine Zeitung