Verdis erste Oper »Oberto« im Stadttheater bejubelt - Gießener Allgemeine Zeitung

03.12.2012

Oberto blanco: Verdis erste Oper begeistert im Stadttheater als konzertante Aufführung. Adrian Gans singt sich in den Arienhimmel.
Weil die Handlung nicht in Szene gesetzt ist, bunte Kostüme sowie irrlichternde Regieeinfälle fehlen, es also nicht aus jeder Pore dampft und blitzt, meiden manche Musikfreunde konzertante Opern. Auch bei der Premiere von Giuseppe Verdis »Oberto« im Stadttheater, die am Samstagabend mit tosendem Applaus gefeiert wurde, blieben einige Sessel leer. Dabei gibt es drei gute Gründe, warum diese Variante von Verdis Bühnenerstling zum Besten gehört, was es in dieser Spielzeit in Gießen zu bestaunen gibt.

Grund Nummer eins: das faszinierende Belcanto-Trio. Francesca Lombardi Mazzulli als Leonora intoniert mit bestechender Reinheit. Die Sopranistin verfügt über ein warmes und weiches Timbre, dem nervige Spitzen fremd sind. Ihre Arie »Sciagurata! A questo lido« ist einer der Höhepunkte dieser an Donizetti und Rossini erinnernden Oper, die gleichwohl die Handschrift Verdis trägt, auch wenn die Nummernabfolge mit verbindenden Rezitativen im Mittelpunkt steht und nicht das durchkomponierte Sujet späterer Werke.

Manuela Custer hätte die Cuniza gern in Szene gesetzt, so intensiv gestaltet die Mezzosopranistin im knallroten Abendkleid (erster Akt) und im tief dekolletierten Schwarzen (zweiter Akt, nach der Pause) ihren Part. Arien und Duette schmückt sie mit Koloraturen, die nicht in der Partitur zu finden sind – Belcanto auf höchstem Niveau. Dazu besitzt Custers Stimme diesen ausgereiften Schmelz betörender Schönheit, mit dessen Hilfe sie im Schlussteil gemeinsam mit Mazzulli eine klangvollendete Einheit bildet.

Norman Reinhardt singt seinen Riccardo ebenfalls in feinster Belcanto-Manier. Er liebt die Kantilenen und bleibt in den Höhen sauber – nur nach Weiberheld und Bösewicht klingt sein strahlender Tenor nicht.

Haussopranistin Naroa Intxausti ergänzt in ihrer kleinen Partie der Imelda dieses formidable Dreigestirn mit ihrem stimulierenden Sopran. Auch Chor und Extrachor des Stadttheaters (wie gewohnt von Jan Hoffmann mit Sorgfalt einstudiert) bieten ein homogenes Bild.

Belcantissimo!

Grund Nummer zwei: das Orchester unter der Leitung von Generalmusikdirektor Michael Hofstetter. Er zaubert vom Pult aus einen Sound ins Große Haus, der so noch nicht zu hören war. Die Streicher halten das Zepter in der Hand. »Oberto« mausert sich zum spannungsreichen Parforceritt. Hofstetter bringt es bei der Premierenfeier auf den Punkt: »Was ist der Unterschied zwischen dem Orchester der Berliner Staatsoper und dem Philharmonischen Orchester Gießen? In Gießen wird mit mehr Enthusiasmus musiziert.«
Obgleich die Partitur mit ihrem gediegenen Schwierigkeitsgrad keine Kunststücke erwarten lässt, glänzt jede Note, verzückt jedes Motiv, erhält jedes Rubato Gewicht. Die Wechsel vom Dreier- zum Vierertakt gelingen unverschämt charmant. Der musikalische Feinschmecker Hofstetter kostet jeden Takt aus. Vom Gießener »Oberto« wird es einen CD-Mitschnitt geben. Bravo!

Grund Nummer drei: Adrian Gans. Wenn seine Stimmbänder halten, was sie versprechen, wird der Hausbariton in absehbarer Zukunft der neue Star am (internationalen) Opernhimmel. Gans wurde in dieser Zeitung schon oft über den grünen Klee gelobt – heute wieder: Der Mann besitzt als rachelüsterner Oberto Durchschlagskraft. Belcanto ist das nicht, sondern gebändigte Urgewalt, wenn er am Ende des ersten Akts im Tutti sein Volumen über das Fortissimo-Orchester samt Chor und Solisten legt. Diese Power drückt den Zuhörer in den Sitz. So etwas gab es in Gießen noch nie. So etwas wird es nicht wieder geben. Gans ist ein Glücksfall. Ein Stimmwunder. Er wird die größten Häuser füllen und mit Wagner brillieren. Die Opernwelt wird ihm zu Füßen liegen. Das Stadttheater kann den Caruso unter den Baritonen nicht länger beschäftigen. Er muss hinaus in die Arenen.

Wer Adrian Gans in voller Größe erleben will: »Oberto« wird noch zweimal aufgeführt: am 16. und 30. Dezember. Nichts wie hin!

Manfred Merz, 03.12. 2012, Gießener Allgemeine Zeitung