Viel Pantomime, wenig Shakespeare - Gießener Anzeiger

03.09.2012

An den Theaterstücken von William Shakespeare (1564 bis 1616) ist schon immer viel herumexperimentiert worden. Zu allen Zeiten fühlten sich Regisseure durch sie herausgefordert und arbeiteten sich mit unterschiedlichem Erfolg daran ab. Aber selbst da, wo dem elisabethanischen Dichter besonders viel Gewalt angetan wurde, zeigte sich, dass seine Dramen unverwüstlich sind. Ein unzerstörbarer Kern bleibt immer. Auch die junge Regisseurin Karoline Behrens stellt sich in Gießen mit einem arg gerupften „Othello“ vor. Zur Spielzeiteröffnung ist ihre eigenwillige, stark stilisierte Inszenierung am Samstagabend vom (überwiegend geladenen) Premierenpublikum im vollbesetzten Stadttheater lange beklatscht worden, was vor allem dem vorzüglich agierenden Ensemble zu verdanken ist.
Wir sehen viel Pantomime, viel Choreografie und hören wenig Shakespeare. Dabei wäre in dem von Lukas Noll geschaffenen Bühnenraum eigentlich genügend Platz fürs Dichterwort. Doch Karoline Behrens hat das Drama nicht nur auf gut die Hälfte zusammengestrichen, sondern eine betont nüchterne, fast möchte man sagen: unpoetische Fassung (Deutsch: Frank Günther) gewählt. Jedenfalls ist von innerer Spannung durch Sprache in der zweieinhalbstündigen Aufführung wenig zu spüren. Deshalb müssen illustrierende Klänge (Musik: Roderik Vanderstraeten) her, um eigene Bedeutungsschwerpunkte zu setzen.
Auf einer grauen Podestbühne vor schwarzem Hintergrund versammelt sich zu Beginn die feine Gesellschaft von Venedig. In Schwarzweißgrau trägt man gediegene Vornehmheit zur Schau (Kostüme: Anne Buffetrille). Die einzigen Farbkleckse sind Desdemonas knallrote High Heels. Die Regisseurin lässt die beziehungslos nebeneinanderstehenden und stur nach vorne blickenden Figuren hier allerdings nicht spielen, sondern nur Text aufsagen. Der Zuschauer muss sich seinen eigenen Reim darauf machen, wer gerade mit wem redet und wer mit der Szene nichts zu tun hat, obwohl er sichtbar anwesend ist. Später öffnet sich die Bühne und gibt den Blick auf eine rote, begehbare Spirale frei, die in ein Bild mit Nervenbahnen eingebettet ist. Aha, hier spielen sich also die inneren Vorgänge ab, hier sind Othello, Desdemona und Jago je nach Gefühlslage mal oben, mal unten. An Intensität und Glaubwürdigkeit gewinnt die Inszenierung erst gegen Ende hin in einem großen, leeren, schwarzen Raum, in dem die Regie endlich das einengende, abstrakte Spiel aufgibt und die Darsteller wieder miteinander in Interaktion treten.

Othello ist weiß Karoline Behrens erzählt die Tragödie des schwarzen Feldherrn Othello, der seine geliebte Frau Desdemona aus Eifersucht erdrosselt, als eine Geschichte vom verlorenen Vertrauen und der Fremdheit in der Gesellschaft und in uns selbst. Bei ihr ist Othello kein Schwarzer; auch mit weißer Hautfarbe ist er durch seine fremdländische Herkunft als Außenseiter abgestempelt. Ihm haftet der Hautgout des Emporkömmlings an, der sich allein durch Fleiß, Können und Charakterstärke Zutritt zu den vornehmen Kreisen verschafft hat.

Diesen rechtschaffenen, gutgläubigen Mann, dessen ganzes Dasein auf der Liebe zu Desdemona zu gründen scheint, spielt Roman Kurtz mit großer Eindringlichkeit. Man sieht ihm an, dass er mit allen Kräften versucht, das zerstörerische Chaos in ihm zu bannen. Doch dann beginnt die Eifersucht an ihm zu nagen. Als von Zweifeln geplagter, dem Wahnsinn naher Othello hat Kurtz seine stärksten Momente.
Auch Anne-Elise Minetti, frisch von der Schauspielhochschule Rostock gekommen, lässt als Desdemona aufhorchen. Während in manchen „Othello“-Inszenierungen gerne angedeutet wird, ob Desdemona nicht doch ihren Mann betrogen hat, sind in ihrer frischen, aufrichtigen Art der Darstellung alle Zweifel weggewischt. Ja, sie liebt ihn.

Brillanter Einstand

Der eigentliche Regisseur des Spiels ist aber Jago, in dessen Händen alle Fäden zusammenlaufen. Alle übrigen Personen schenken ihm bereitwillig Glauben und werden von ihm hinters Licht geführt. In dieser Paraderolle brilliert Vincenz Türpe gleich bei seinem ersten Auftritt in Gießen. Wie Anne-Elise Minetti ist er neu im Ensemble, und genau wie sie fällt er zunächst durch sehr gute, souveräne Sprachbehandlung auf. Er betont nicht so sehr die Dämonie des Bösen und reizt auch nicht die Komik dieser Figur aus, die bei Shakespeare sehr wohl gegeben ist. Sein Jago geht nüchtern, überlegt, ja geradezu geschäftsmäßig zu Werke. Von teuflischem Spaß keine Spur. Dagegen verleiht dem Intriganten, der zwar in Gesellschaft gerne den wortgewandten Lästerer und Salonlöwen gibt, eine Aura der Kälte und Freudlosigkeit. Und manchmal scheint es sogar, dass er von Skrupeln heimgesucht wird.

Lukas Goldbach spielt den Rodrigo als etwas einfältigen, aber ehrlichen Kerl, während der von Pascal Thomas verkörperte Cassio ein wenig blass bleibt. Mirjam Sommer schlägt als Emilia selbstbewusste, durchaus kämpferische Töne an. Petra Soltau ist eine fesche Herzogin und Ana Kerezovic die hübsche Bianca. Warum Harald Pfeiffer als Senator Brabantio die ganze Zeit über als Clown herumlungern muss, erschließt sich einem nicht ganz.

Thomas Schmitz-Albohn, 03.09.2012, Gießener Anzeiger