Wiedergeburt aus dem Geiste des Belcanto: Verdis Opernerstlings „Oberto“ erklingt unter der Leitung von Michael Hofstetter in Gießen - Gießener Anzeiger

03.12.2012

Giuseppe Verdi (1813 bis 1901) äußerte sich im Alter eher skeptisch darüber, ob man seinen Bühnenerstling „Oberto“ überhaupt noch einem Publikum zumuten könne. Ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung war er der festen Überzeugung, dass keiner mehr die Geduld aufbringen würde, sich die zwei langen Akte von „Oberto“ anzuhören. Wie sehr der Maestro in diesem Fall irrte, zeigte sich am Samstagabend bei der konzertanten Aufführung seines Opernerstlings im Gießener Stadttheater. In der gut besuchten Premiere wollten Beifall und Jubel nach einem bewegenden zweieinhalbstündigen Opernerlebnis kein Ende nehmen. Immer wieder wurden vor allem die vorzüglichen Gesangssolisten hervorgerufen, die den Abend zu einem großen Fest der Stimmen machten.

Unter dem sowohl elanvollen als auch präzisen Dirigat von Generalmusikdirektor Michael Hofstetter erlebten die Besucher ein Philharmonisches Orchester, das inspiriert und temperamentvoll musizierte. Schon nach der Ouvertüre mit ihren unüberhörbaren Anklängen an Bellini und Rossini ertönten die ersten Bravorufe, und diese Begeisterung hielt den ganzen Abend über an, an dem das Gießener Publikum mit dem selten gehörten Erstling Verdis Bekanntschaft machte. Zwischenapplaus um Zwischenapplaus begleitete die Aufführung, die für eine spätere CD-Aufnahme mitgeschnitten wurde.

„Oberto“ spielt im mittelalterlichen Italien: Graf Oberto, besiegt, entehrt und verbannt, kehrt in seine Heimat zurück, um seine Tochter Leonora zu rächen, die von dem Adeligen Riccardo Salinguerra verführt wurde. Selbst von dem Versprechen Riccardos, zu Leonora zurückzukehren, lässt sich der alte Mann nicht erweichen. Oberto will seine Rache - und wenn es das eigene Leben kostet.

Prototyp

Der bekannte Verdi-Forscher Julian Budden hat darauf hingewiesen, dass bereits hier „ein Prototyp des Rigoletto“ im Mittelpunkt der Handlung steht: ein verletzter Vater, hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu seiner Tochter und dem unauslöschlichen Wunsch, sich an ihrem Verführer zu rächen; eine Figur, die sich ungemein lebhaft in Rezitativ und Arioso auszudrücken vermag. Hofstetter sieht in diesem Oberto, der an der überkommenen Auffassung von Ehre und Rache blindwütig festhält, „die dumme Verbohrtheit der alten Generation, die nichts dazulernen will“. Das Happy End ist in greifbarer Nähe, doch Oberto macht alles kaputt.

Bekanntlich ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, und so sind in diesem Frühwerk Einflüsse von Donizetti, Bellini, Mercadante und der italienischen Opernkonvention zu erkennen. Hofstetter und das Orchester glätten nichts und präsentieren ein Werk mit Ecken und Kanten, in dem die Musik zwar noch etwas unausgewogen ist, in dem sich aber an vielen Stellen der kommende Musikdramatiker mit seiner eigenen Tonsprache, seinem unverwechselbaren Klang und seiner Kraft der rhythmischen und melodischen Gestaltung verrät. Triviale Wendungen kommen allerdings auch vor.

Im Verlauf des Premierenabends agierte der Dirigent immer lebhafter. So hatte man das Gefühl, dass der zweite Akt im Vergleich zum ersten deutlich an Intensität und Durchschlagskraft gewann. Entscheidend ist aber, dass sich unter Hofstetters Dirigat - um es mit Nietzsche ein wenig pathetisch auszudrücken - die Wiedergeburt des jungen Verdi aus dem Geiste des Belcanto ereignete. Zum Belcanto gehören die Reinheit und Feinheit des Tons sowie Rundung und Fülle des Melodieflusses. Die Gestaltung der Töne nach dem Wortinhalt ist dabei nicht so wichtig: Schönheit über alles! Diese Interpretation geht von dem Gedanken aus, dass der junge Komponist nicht auf die charakteristischen Verdi-Interpreten späterer Zeiten zurückgreifen konnte, sondern auf Sänger, die am Belcanto ihrer Zeit geschult waren.

Gelungenes Experiment

Hofstetters Experiment darf als gelungen bezeichnet werden - und dies ist vor allem der Riege hervorragender Gesangssolisten zu verdanken, die allesamt mit dem Belcanto auf vertrautem Fuße stehen. Bei Francesca Lombardi Mazzulli als Leonora kommt noch die besondere Nähe zu Barockrollen hinzu. Sie hat ein gutes Gefühl für feine Nuancen und intime Klänge, und sie besingt nicht nur einen schönen Engel, sondern singt selbst wie ein Engel. Ruhig und gesammelt im Ausdruck, perfekt in der Tongebung, geht von ihrem Sopran ein faszinierendes Leuchten aus. Und dass sie hinter allen gesanglichen Verzierungen den Schmerz der Liebenden glaubhaft werden lässt, ist ergreifend.
Der Tenor Norman Reinhardt, den Hofstetter von der gemeinsamen Arbeit an der Houston Grand Opera her kennt, singt den Herzensbrecher Riccardo klangschön mit Subtilität und immensem Ausdruck. Er verfügt über den nötigen Schmelz und über eine strahlende, unangestrengte Höhe. Seine letzte Arie nach dem Duell ist voller Hingabe.

Ein wenig Glanz der Mailänder Scala, an der sie bereits gesungen hat, trägt die divenhafte Mezzosopranistin Manuela Custer als Cuniza in diese Aufführung. Mit großem Stimmumfang, edlen Phrasierungskünsten und einem an Verzierungen reichen Gesang bietet sie eine glaubhafte Darstellung einer in der Liebe hintergangenen Frau. Sie versteht sich vor allem auf die leisen, kaum hörbaren Zwischentöne bis zum gleichsam schwebenden Pianissimo.
Zu diesem Bereich hat der Bariton Adrian Gans, der in Gießen immer wieder gern gehört wird, allerdings keinen Zutritt. Er ist eher für die Trompetenstöße zuständig. Gleichwohl erweist er sich als ideale Besetzung für den Feuerkopf Oberto. Auch hat er der Trompetenstärke seiner expressiv vorpreschenden Stimme diesmal ein wenig die Zügel angelegt, und wenn er den liebenden Vater mit Sanftheit gibt, liegen ihm seine weiblichen Fans zu Füßen. Höhepunkt des Abends ist das Quartett der Solisten unmittelbar vor der Duellszene, das einen Reichtum an Gedanken auf engstem Raum enthält, der so viele Ensembles des jungen Verdi auszeichnet.

Der von Jan Hoffmann einstudierte Chor macht seine Sache zwar gut, doch er könnte noch besser sein, wenn die Lautstärke - besonders bei den Männerstimmen - an einigen Stellen etwas abgemildert wäre. Naroa Intxausti singt in einer kleinen Nebenrolle die Dienerin Imelda.

Thomas Schmitz-Albohn, 03.12.2012, Gießener Anzeiger