Yasmina Reza rechnet ab - Wetzlarer Neue Zeitung

19.10.2012

Yasmina Reza rechnet ab

STADTHEATER „Ihre Version des Spiels“ hat Premiere
Mit Fug und Recht darf man von einer Sensation und einem echten Coup sprechen. Denn als zweite Bühne überhaupt zeigt das Stadttheater Yasmina Rezas neues Drama „Ihre Version des Spiels“.

Am Samstag hatte das Schauspiel der derzeit weltweit meistgespielten Dramatikerin, das erst Anfang Oktober am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt wurde, in einer Inszenierung von Intendantin Cathérine Miville im Großen Haus Premiere.
Gemeinsam mit ihrem Ensemble hat Miville, die in Gießen unter anderem schon „Der Gott des Gemetzels“  2007 auf die Bühne gebracht hat, das neue Stück als Fegefeuer der Eitelkeiten des zeitgenössischen Kulturbetriebs inszeniert. Ins Blickfeld rückt das Personal des Dramas, an erster Stelle die Schriftstellerin Nathalie Oppenheim, von Carolin Weber als sensible und schüchterne Außenseiterin gespielt. Sie reist in die französische Kleinstadt Vilan-en Volène, um dort im Rahmen einer Lesereihe, die der Stadtbibliothek Roland Boulanger – charmant: Roman Kurtz als verträumter Fan – regemäßig veranstaltet, ihren neuen Roman „Land des Überdrusses“ vorzustellen. Neben der obligatorischen Lesung steht ein Interview mit der Journalistin Rosanna Ertel-Keval, Ana Kerezović  eiskalt, an. Und ein Empfang mit dem selbstverliebten Bürgermeister, den Harald Pfeiffer als echten Narzissten gibt. Das ist die Handlung des Stücks, bei dem es Reza besonders darauf ankommt, die Befindlichkeiten ihres Personals herauszustellen. Besser gesagt: Genau um diese Befindlichkeiten geht es, denn das Schauspiel interessiert sich praktisch nicht für Oppenheims neuen Roman. Er wird vielmehr zum Brennglas der Eitelkeiten der Akteure: In erster Linie der Journalistin Ertel-Keval, die das Buch kurzerhand zur journalistischen Quelle für die Biografie der Schriftstellerin degradiert und sich selbst so absolute Deutungshoheit zuschreibt.
Kunst dient nur der Eitelkeit
Aber auch für den Stadtbibliothekar und den Bürgermeister, die weniger an der Kunst als vielmehr daran interessiert sind, einen „dicken Fisch“ des Literaturbetriebs in ihrer Kleinstadt zu haben. Die Botschaft, die Reza mit dieser Handlung transportiert, ist knallhart und schonungslos: Die Kunst hat in der zeitgenössischen Diktion ihre Bedeutung und ihren Wert vollständig verloren. Sie dient bloß noch den Akteuren der Kulturszene als Vehikel zur Selbstinszenierung. Kurzum, Reza rechnet knallhart mit der Kulturszene unserer Tage ab. Das ist derb und illusionslos, aber irgendwie ehrlich und in hohem Maße sehenswert.

Stephan Scholz, 19. Oktober 2012, Wetzlarer Neue Zeitung