Zwischen Podiumsdiskussion und Irrenhaus: Klaus Hemmerle inszeniert „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats“ von Peter Weiss - Gießener Anzeiger

14.01.2013

Auf der Bühne vor schwarzem Vorhang steht ein breites Podium mit Stühlen, Mikrofonen und Wassergläsern für die Redner. Vorne ein Spruchband, auf dem aber keine politische Parole, sondern der Titel des Stücks zu lesen ist: „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats“ von Peter Weiss. Nanu, denkt man beim Eintritt in den Zuschauersaal, fällt die Vorstellung aus und ist stattdessen kurzfristig eine Diskussionsveranstaltung angesetzt worden? All jene, die die späten 60er und frühen 70er Jahre als Schüler und Studenten miterlebt haben, können sich noch gut an die Podiumsdiskussionen in endlosen Vollversammlungen erinnern, die damals in proppenvollen Hörsälen, Seminarräumen, aber auch auf Theaterbühnen stattfanden.

Regisseur Klaus Hemmerle holt diese unruhige, rebellische Zeit, die sich bei der heutigen Friedhofsruhe in den Universitäten keiner mehr so recht vorstellen kann, für gut anderthalb Stunden zurück. Und er tut dies aus dem Abstand der Jahre mit einem ironischen Augenzwinkern, das auch Kritik an unserer Gegenwart nicht ausspart. In seiner Inszenierung des seinerzeit überaus erfolgreichen Weiss’schen Revolutionsdramas (uraufgeführt 1963) fügt er den vielen Zeitebenen eine weitere hinzu: die der Entstehungszeit. So fühlt man sich als Zuschauer wieder hineinversetzt in jene Atmosphäre mit ihren Demonstrationen, Sit-Ins, hitzigen Wortgefechten und Happenings. In das Regiekonzept passt auch, dass zum Beispiel Schauspieler Vincenz Türpe aus einer in der Zeitschrift „Theater heute“ erschienenen Statistik vorliest, wonach die Zahl der Schauspieler in Deutschland in den letzten 25 Jahren um 35 Prozent zurückgegangen ist und heute nur noch knapp über 2000 beträgt, während im gleichen Zeitraum die Zahl der Inszenierungen um 30 Prozent gestiegen ist. Wie geht das?
Das Premierenpublikum im gut besuchten Stadttheater ließ sich von Hemmerle und dem ebenso engagiert wie präzise agierenden Ensemble bereitwillig durch die Jahrhunderte führen und spendete am Ende freundlich Beifall.

Was ist aus unserer Revolution geworden? Das fragen sich die Insassen der Irrenanstalt Charenton, die im Jahre 1808 - also in nachrevolutionärer, napoleonischer Zeit - unter der Anleitung ihres Leidensgenossen Marquis de Sade die Ermordung des Revolutionärs Jean Paul Marat 1793 nachspielen. Mirjam Sommer, die in einer eindringlichen Szene die Schrecken der Guillotine deutlich macht, ersticht als eiferndes Bürgermädchen Charlotte Corday den von Lukas Goldbach verkörperten Revolutionär in der Badewanne. Das blutige Gemetzel bleibt dem Publikum zum Glück erspart.

Lieder und Geschrei

Hemmerle hat die personenreiche Stückvorlage auf die Hälfte zusammengestrichen und eine spielbare Version für acht Schauspieler und einen Akkordeonisten (Wolfram Karrer) geschaffen. Die anfängliche Podiumsdiskussion mit Redebeiträgen, Gejohle, Geschrei, hämmernden Fäusten, Bänkelliedern und rhythmischem Sprechen im Chor macht nach und nach richtigem Theater Platz: Nachdem sich der Vorhang gehoben hat, blickt man in die geschlossene Abteilung des Irrenhauses. Alle sind innerhalb eines großen Netzes eingesperrt; ansonsten herrscht tiefschwarze Dunkelheit bis auf die große, von der Decke herabhängende rote Fahne im Hintergrund (Bühne: Johanna Maria Burkhart). Ana Kerezovic hat inzwischen den weißen Kittel der Anstaltsdirektorin übergezogen, und Harald Pfeiffer trägt die Perücke und den Rock des Marquis de Sade (Kostüme: Yvonne Forster). Als Genussmensch muss er während der Vorstellung eine Flasche Rotwein leeren, aber seine Auseinandersetzung mit dem Revolutionär Marat kommt deutlich zu kurz, auch wenn zum Schluss alle sein Liedchen trällern: „Denn was wäre schon diese Revolution ohne eine allgemeine Kopulation.“

Milan Pesl, Pascal Thomas und Rainer Hustedt vervollständigen das Ensemble. Sie alle zeigen, dass sie wandlungsfähig und zudem sehr musikalisch sind. Ob Opernparodie, Protestsong oder wildes Musik-Happening mit Saxofon, Trompete, Gitarre und Akkordeon - sie haben alles drauf. Trotz aller Bemühungen bleibt die Aufführung konturlos. Es gibt keinen dramatischen Konflikt, keine Entwicklung, alles bleibt in der Schwebe, und der eine oder andere Zuschauer ist doch ein wenig erleichtert, dass er dieses Irrenhaus mit all seinen Turbulenzen und Zwangsjacken nach anderthalb Stunden endlich wieder verlassen darf.

Weitere Vorstellungen am 1. und 22. Februar, 9. März, 1. und 19. April jeweils um 19.30 Uhr.

Thomas Schmitz-Albohn, 14.01.2013, Gießener Anzeiger