AN oder AUS?: Philipp Löhles »Nullen und Einsen« - Gießener Allgemeine Zeitung

05.05.2014

Im Computerzeitalter gibt es nur zwei Zustände: AN und AUS. Ähnlich unvereinbar sind auch die Meinungen des Publikums zu Philipp Löhles Stück »Nullen und Einsen«, das am Samstag im Stadttheater Premiere hatte. Ein Teil der Zuschauer verließ kopfschüttelnd vorzeitig das Haus, der andere hatte einen überaus vergnüglichen Abend.

Was passiert, wenn sich das Individuum gegen die Gesetzmäßigkeiten und Regeln des Lebens stellt? Und wie kann sich der Einzelne sein Stück persönlichen Eigensinn, und damit seine Freiheit, im Meer der Konformisten erhalten? Das sind Fragen, die Philipp Löhle in seinen Stücken beschäftigen. In seiner Komödie »Nullen und Einsen« – im Januar 2013 am Staatstheater Mainz uraufgeführt und nun am Stadttheater von Dirk Schulz inszeniert – verlegt Löhle diese Fragen in die Welt der mathematischen Formeln und digitalen Strukturen. Was angesichts des verwirrenden Titels zunächst nach einem Theaterabend mit dem Charme einer Oberstufen-Mathestunde klingt, entpuppt sich dann aber als höchst unterhaltsame zwei Stunden mit komödientypischem Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel, Klamauk mit dadaistischen Zügen und einem fatalistisch-verwirrenden Ende. Nicht alle im Zuschauerraum wollten sich auf dieses absurde Spiel einlassen, und so spielte das Ensemble nach der Pause vor deutlich gelichteten Reihen.

Löhles Geschichte um den drögen Controller Moritz Krehmer, der seiner Angebeteten Klara vergeblich zu beweisen versucht, dass er kein Langweiler ist, hat durchaus das Zeug zum Agenten-Thriller. Ein irrer Professor verrät Moritz eine mathematische Formel, mit der dieser seine Arbeit in Rekordzeit erledigen kann, aber zugleich die digitale Ordnung stört. Moritz’ Chef setzt daher einen (untalentierten) Killer auf den jungen Mann an. Rettungssanitäter Jonas klaut Moritz’ Papiere und nimmt dessen Identität an und die nach einem Unfall im Rollstuhl sitzende Jule nutzt die Vergesslichkeit des wirren Professors aus, indem sie ihm vorgaukelt, dass auch er Moritz Krehmer sei. Haben oder Nichthaben, stabil oder instabil, Gehen oder Bleiben – das sind die Pole, zwischen denen die in kurze Einzelsequenzen aufgesplitterte Geschichte pendelt. Am Ende fügen sich die Einzelstränge zu einem Knäuel zusammen – doch statt einer Wiederherstellung der alten Ordnung gerät alles in ein komplettes Durcheinander der Identitäten.

Die Absurdität des Finales ist – neben einigen unlogischen Konstellationen in der Story – die große Schwäche des Stücks, aus dem Regisseur Dirk Schulz mit leichter Hand das Bestmögliche herausholt. Statt tiefgreifender Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten des Lebens, bleibt am Ende leider nur die schnöde Erkenntnis, dass nichts so ist wie es scheint. Aber das ist ja wohl keine wirklich neue Einsicht. Statt Erkenntnisgewinn gibt es Trockeneisnebel, Verwirrung und Fatalismus. Schade. Man hatte mehr erwartet.

Dass der Abend aber dennoch zu einem Genuss wird (lange wurde im Stadttheater nicht mehr so viel gelacht), dafür sorgt neben der einfallsreichen Regie und den durchweg mit erkennbarem Spaß agierenden Schauspielern Bühnenbildner Bernhard Niechotz. Er jongliert im Mathematikum-Stil mit Spiegeln, optischen Täuschungen, ungewohnten Proportionen, dass es eine wahre Freude ist. Weiße Linien auf dem Boden, die an ein Spinnennetz erinnern, erzeugen Tiefe. Riesige Reflektionsflächen schaffen Doppelbilder und halten dem Publikum den sprichwörtlichen Spiegel vor. Häuser erweisen sich als Vexierbilder. Musik von Fabian Kühlein bringt zusätzlich akustischen Drive in den optischen, mit Videoeinspielungen aufgepeppten Spaß.

Lukas Goldbach spielt Moritz, der sich selbst abhanden kommt, mit Sinn für die Lächerlichkeit dieser Person. Pascal Thomas gibt den mit seinem eigenen Leben unzufriedenen Rettungssanitäter und Anne-Elise Minetti die toughe Klara, die doch eigentlich nur auf einen richtigen Kerl wartet. Roman Kurtz hat als vergesslicher Penner-Professor die Sympathien auf seiner Seite und Rula Badeen hat als frustrierte Rollstuhlfahrerin Jule bei ihrem ersten Auftritt in Gießen einen glänzenden Einstand. Vincenz Türpe verzweifelt als Punkrock hörender Notarzt am plötzlich dreifachen Moritz, Rainer Hustedt ist als tapsiger und kahlköpfiger Killer kaum wiederzuerkennen, Harald Pfeiffer kämpft als Chef nicht nur mit seinem Hund und Milan Pešl bleibt als fürsorglicher Tom eher eine Randfigur.

Konsequenterweise hätte man am Premierenabend angesichts der digitalen Ausschließlichkeit sowohl »Buh«- als auch »Bravo«-Rufe aus dem Publikum erwartet. Es blieb aber nur bei vereinzelten »Bravos« und etwas lauwarm-freundlichem Applaus. Die potenziellen »Buh«-Rufer hatten offenbar schon nach der extrem späten Pause die Flucht ergriffen. Mal schauen, ob das bei den weiteren Vorstellungen am 17./25. Mai, 5./29. Juni und 12. Juli auch der Fall sein wird.

Karola Schepp, 20.04.2014, Gießener Allgemeine Zeitung