Die Angst spürbar gemacht: »Ab heute heißt du Sara« - Gießener Allgemeine Zeitung

05.11.2013

Der Dauerbrenner vom Berliner Grips-Theater ist nun auch in Gießen zu sehen: Intendantin Cathérine Miville inszeniert das Stück im Großen Haus des Stadttheaters.


»Das Stück steht immer noch bei uns auf dem Spielplan«, erzählt Volker Ludwig vom Berliner Grips-Theater, der es sich nicht hat nehmen lassen, am Sonntagabend eigens zur Premiere von »Ab heute heißt du Sara« nach Gießen anzureisen. 330 Vorstellungen wurden seit der Uraufführung vor 24 Jahren dort gespielt, fünf junge Darstellerinnen haben in diesem Zeitraum die Hauptperson Inge verkörpert. Aber: »Zwei ältere Herren sind von Anfang an immer noch dabei«, verrät Ludwig, inzwischen selbst 76 Jahre alt und als Geschäftsführer des Grips-Theaters stets aktiv. Worin liegt das Geheimnis dieses Dauerbrenners, der in seiner Machart an den sensationellen Erfolg der Revue »Linie 1« anknüpft?

Es war damals im Februar 1989 durchaus ein Wagnis, ein geschichtsträchtiges Thema derart aufzubereiten: 33 Bilder, die sich – aufgelockert durch musikalische Nummern – nahtlos aneinanderreihen, um die Stationen einer erniedrigenden Flucht und des Versteckens der Jüdin Inge Deutschkron vor den Nazis so nachzuzeichnen, dass auch Jugendliche die Schrecken und die Angst jener Zeit spürbar erfahren können. Das funktioniert deshalb so gut, weil sich Volker Ludwig und Detlef Michel in ihrer Bearbeitung – wie schon Inge Deutschkron 1978 in ihrer Autobiografie »Ich trug den gelben Stern« – auf das Leben der kleinen Leute konzentrieren, auf ihre bescheidenen Wünsche und Verhältnisse, auf die grenzenlose Furcht, die sich wie ein dunkler Schatten in den 1930er Jahren ausbreitet und jeden Nachbarn zum potenziellen Spitzel werden lässt.

Der berührenden Thematik durchaus angemessen tritt Cathérine Miville in ihrer Inszenierung im Großen Haus in puncto Schmissigkeit auf die Bremse. Ruhig verläuft ihr Erzählfluss, jede Effekthascherei wird vermieden. Nur einmal erlaubt sich die Regie führende Intendantin eine Anspielung auf die aktuellen Ereignisse im syrischen Aleppo. Auch wenn die Gesangseinlagen in der Choreografie von Anthony Taylor durchaus Witz und Tempo haben: Keine Szene gerät außer Rand und Band, verliert sich im unangemessen überdrehten Ton. Selbst als gen Ende die Frauen ausgebombt werden und sie das Chaos hochleben lassen, spiegelt dies nur die Verzweiflung wider, die sich in einer Art Galgenhumor entlädt.

Ausstatter Lukas Noll hat mit seinem aufgerissenen Davidstern ein aussagekräftiges Bühnenbild kreiert, das sich durch den Einsatz der Drehbühne als geradezu ideal für die raschen Szenen- und Ortswechsel erweist. Das genaue Datum und die Straßenangabe werden auf eine große Leinwand projeziert, auf die verschiedene Häuserfluchten im Comicstil gezeichnet sind. Taucht hier zu Anfang als Lichtblick noch ein grüner Baum oder ein Stückchen blauer Himmel auf, verströmen die Häuser am Ende des Krieges nur noch graue Tristesse.

In dieser aufwendigen Schauspielproduktion müssen alle ran, sogar die Bühnentechnik wird als Möbelpacker eingesetzt. Jeder Darsteller hat mehrere Rollen zu verkörpern, schnelle Umzüge inbegriffen (Kostüme: Stephanie Dorn). Nur die beiden Hauptpersonen bleiben gleich, ziehen sich durch die wechselvolle Geschichte: Mirjam Sommer als Mädchen Inge und Carolin Weber als ihre Mutter Ella – zwei starke Frauen, die nicht aufgeben wollen, auch wenn am Ende die Kräfte schwinden.

Sommer hat ihren stärksten Auftritt zweifelsohne, wenn sie – vollkommen isoliert stehend – in der S-Bahn ihr (An-)Klagelied vom »großen gelben Fleck« anstimmt und derartig intensiv intoniert, dass es jeden Zuschauer nur rühren kann. Überhaupt schafft es die 26-Jährige mit einer erstaunlichen Sicherheit, durchs ganze Stück zu tragen und den Wandel von der aufmüpfigen Elfjährigen, die mehr Fragen hat, als sie Antworten bekommt, zur verantwortungsvoll handelnden jungen Frau glaubhaft zu vollziehen. Als verlässliche Größe an ihrer Seite erweist sich dabei Carolin Weber als ständig sorgende Mutter, die klaglos mit ihrer Tochter von Versteck zu Versteck zieht, um ihrer beider Leben zu retten.Die dreiköpfige Live-Band unter der Leitung von Martin Spahr am Keyboard leistet ganze Arbeit. Lukas Rauber ist für die Trompeteneinsätze à la »Lili Marleen« bei den Szenenübergängen zuständig, Christoph Czech liefert am Schlagzeug die passenden Rhythmen. Zudem spielen beide ebenfalls Keyboard, um die ganze musikalische Bandbreite vom Walzer bis zum Marsch zu bedienen. Da gibt es den vierstimmigen Männerchor der Sozialdemokraten ebenso wie das zeitlose Lied von den kleinen Leuten, die gerne einmal beim Tanzen alles vergessen.Bunt ist die Palette der Figuren: vom Hitlerjungen bis zur abtransportierten Jüdin ist alles gefragt. Eine, die sich nichts gefallen lässt, ist Petra Soltau als couragierte Lisa Holländer, die Inge und ihrer Mutter Unterschlupf gewährt. Auch Kyra Lippler zeigt als Frau Gumz Charakter, indem sie für frische Wäsche sorgt. Anne-Elise Minetti bleibt als entrückte Lily Blumenthal in Erinnerung und Harald Pfeiffer als karriereorientierter Sozialdemokrat Ostrowski. Mit stiller Eindringlichkeit zeichnet Milan Pešl den KZ-Entronnenen Kurt, Roman Kurtz entwickelt als Judenretter Otto Weidt tolldreiste Pläne. Pascal Thomas bringt als Max Blumenthal dem Teenager Inge das Tanzen bei, Lukas Goldbach verkörpert ihren ersten Freund Hans Freudenthal.Rainer Hustedt übernimmt den Part des Vaters, dem in letzter Sekunde noch die Ausreise nach England gelingt, während er Frau und Tochter zurücklassen muss. Für ihn hat Inge Deutschkron seinerzeit auch ihre Erlebnisse aufgeschrieben, damit er sich eine Vorstellung vom Leben in der Illegalität machen konnte.Das Stadttheater kann sich seiner Sache sicher sein. »Ab heute heißt du Sara« wird auch hier seine begeisterten Zuschauer finden. Das zeigt nicht nur der anerkennend intensive Applaus am Premierenabend. Gleich zwölf weitere Vorstellungen sind für diese Spielzeit disponiert – und die sind sowohl für Jugendliche als auch für Erwachsene gedacht.Marion Schwarzmann, 04.11.2013, Gießener Allgemeine Zeitung