Erzwungene Allianz als gelungene Synthese - Gießener Anzeiger

09.09.2013

Einen Brecht-Klassiker zum Saisonauftakt auf den Spielplan zu setzen – das erfordert eine gewisse Risikobereitschaft. Denn dem epischen Theater des Bert Brecht haftet der Ruf an, mit den Jahren etwas Staub angesammelt zu haben. Doch das Stadttheater Gießen zeigte sich selbstbewusst und engagierte die französische Regisseurin Sandrine Hutinet und Bühnenbildner Matthias Schaller, um das Stück „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ auf die Bühne zu bringen.

Das Schauspielteam setzte alles dran, erfolgreich in die Spielzeit 2013/14 zu starten, und wurde nach der über zweieinhalbstündigen Aufführung mit lang anhaltendem Applaus belohnt. Zunächst ein paar Takte zum Stück: Bert Brecht hat seinen „Herrn Puntila“ ab 1940/41 im finnischen Exil geschrieben, als Vorlage diente ein Theaterstück der finnischen Dichterin Hella Wuolijoki, 1948 wurde das „Volksstück“ im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. Die Gießener Inszenierung versetzt das Stück in die Gegenwart, worauf auch das großartige Bühnenbild von Matthias Schaller hinweist. Da erscheinen die „Lichter der Großstadt“ hinter den großen Fensterscheiben wie in einer Bankenmetropole. Bei dem gleichnamigen Film von Charlie Chaplin hat sich Bertolt Brecht übrigens ebenfalls einige „Anregungen“ geholt. Die Musik zum Schauspiel stammt von Paul Dessau, für Brecht war er neben Kurt Weill der zweite wichtige Begleiter in Sachen Musik. Mit dem „Puntilalied“ beginnt denn auch das Bühnenstück, wirksam vorgetragen von Petra Soltau, die sich an diesem Abend nicht zum ersten Mal als Sängerin bewährt, am Akkordeon wird sie von Manfred Becker begleitet. Herr Puntila (Roman Kurtz) ist Kapitalist. Er besitzt in Finnland riesige Wälder und lässt dort eine Schar von Waldarbeitern bei schlechter Bezahlung schuften. Er schikaniert seinen Chauffeur Matti (Vincenz Türpe) und will zur Aufbesserung des Geschäfts seine Tochter Eva (Anne-Elise Minetti) mit einem einflussreichen Attaché (Milan Pesl) verkuppeln. Puntila setzt Arbeiter vor die Tür, denen er bereits einen Vertrag zugesagt hatte, und ebenso drei Mädchen, denen er zum Schein die Ehe versprochen hatte.

Rausch der Gleichheit

Aber: Wenn Puntila betrunken ist, und das ist ziemlich häufig der Fall, dann wird er menschlich. Er bereut sein hartherziges Durchgreifen und legt freundliche Züge an den Tag. Mit seinem Personal trinkt er sich in eine Art Kumpelhaftigkeit hinein, die doch niemals echt sein kann. Doch kaum ist Puntila nüchtern, ist der Rausch der Gleichheit schon wieder verflogen. So bleibt Matti lieber von vorneherein auf Abstand. „Denn die Freundschaft zwischen Herr und Knecht“, so beschreibt auch Dramaturg Matthias Schubert im informativ zusammengestellten Programmheft, „ist nichts anderes als eine erzwungene Allianz, die die bestehenden Asymmetrien nicht aufhebt, sondern verfestigt.“ Roman Kurtz präsentiert einen kraftvollen und jähzornigen, kaltschnäuzigen und zärtlichen Puntila, der jederzeit glaubwürdig erscheint. Seine Rolle ist allerdings so angelegt, dass die Unterschiede zwischen nüchtern und betrunken, hartherzig und gutmütig nie deutlich zutage treten. Der Zuschauer muss nie bangen, wann nun die Stimmung wieder kippt und Knecht Matti und die anderen Arbeiter mit weiteren Sanktionen zu rechnen haben. 

Einen wirklich coolen Matti gibt Schauspieler Vincenz Türpe. Er ist verschmitzt und kann mit seinem launenhaften Herrn richtig umgehen. Tochter Eva (Anne-Elise Minetti) macht ganz auf sexy Modepüppchen, doch in Wirklichkeit ist sie in Matti verliebt und würde für ihn auf die Annehmlichkeiten ihres großbürgerlichen Lebens verzichten. Dass eine Beziehung auf Dauer nicht funktionieren kann, macht die „Examinierung“ klar. Strümpfe stopfen, Wäsche waschen, das hat die „höhere Tochter“ nie gelernt.

Weiter mit von der Partie: Der rote Surkalla (Rainer Hustedt), der Einzige, der gegen Herrn Puntila aufbegehrt und deshalb mit Entlassung rechnen muss. Hustedt spielt außerdem auch den Richter, der schon betrunken vom Sofa fällt, bevor das Stück überhaupt erst richtig beginnt.

Gestrichen oder umbenannt wurden die kleineren Frauenrollen: Carolin Weber spielt die Telefonistin und Pröbstin, wegen Erkrankung einer Kollegin spielt aparterweise Milan Pesl auch das Apothekerfräulein. Gleich vier Rollen schafft Lukas Goldbach: den Ober, den Viehdoktor, den Advokat und den Kümmerlichen. Eines ist sicher: bei dieser Aufführung muss es in der Garderobe flott zugehen.

„Von Brecht soll der ganze Staub abfallen“: Mit diesem Anspruch ist das Regieteam in Gießen angetreten. Doch das ist leichter gesagt als getan. So ist es gewiss nicht ohne Probleme, dem epischen Theater des Bertolt Brecht mehr Emotion und Nähe einzuflößen, als ihm gut tut. Das ist schließlich nicht im Sinne des Erfinders. Doch mit seiner jüngsten Inszenierung ist dem Stadttheater Gießen eine Synthese geglückt zwischen Brecht´schem Original und moderner Theaterkunst, die einen Besuch wert ist.

Weitere Vorstellungen am 14., 20., 26. September, am 11. und 18. Oktober, am 9. und 23. November und am 12. Dezember jeweils um 19.30 Uhr sowie am 6. Oktober um 15 Uhr.

Gießener Anzeiger, Ursula Hahn-Grimm, 09.09.2013