Es hat keinen Sinn, auf Wunder zu warten - Gießener Anzeiger

14.01.2014

Im Stück „Kleine Engel“ werden philosophische Fragen kindgerecht dargeboten / Ansprechende Inszenierung im TiL

Es gibt ein Wort, das die Inszenierung von Marco Balianis Kinderstück „Kleine Engel“ in der deutschen Übersetzung von Brigitte Korn-Wimmer am besten beschreibt. Und dieses Wort lautet: hochintelligent. Am Sonntag hatte das Kammerspiel im Theater im Löbershof (TiL) Premiere. Als Zuschauer angesprochen sind alle ab acht Jahren, doch die mittlerweile zweite Gießener Regiearbeit von Roman Kurzt ist auch etwas für Erwachsene. Nicht zuletzt, weil es thematisch sehr deutliche Anklänge an Samuel Becketts „Warten auf Godot“ gibt.

Dieser intertextuelle Bezug ist natürlich ein deutlicher Hinweis darauf, dass das Stück tatsächlich erst frühestens ab acht Jahren geeignet ist. Mit etwas wie Schreckpotenzial hat das allerdings nichts zu tun. Eher damit, dass Baliani schon Themen verhandelt, die im weitesten Sinne gesellschaftskritisch und gar philosophisch sind.

Verschlossener Himmel

In einem Hinterhof lässt er einen arbeitslosen Arbeiter und eine arbeitslose Putzfrau aufeinander treffen. Ein Herr im langen Mantel hat ihnen versprochen, dass sie hier Arbeit bekommen und zwar als Engel. Also warten die beiden und vertreiben sich die Zeit mit Auseinandersetzungen und Fantasien, um dabei immer mehr zueinander zu finden. Der tatsächliche Himmel bleibt allerdings verschlossen.

Deutlich zu erkennen ist der Bezug zu Becketts „Godot“, nur dass Baliani und mit ihm Roman Kurtz eine deutliche Antwort gibt: Es macht keinen Sinn auf Wunder zu warten, sondern sich auf Erden zusammenzutun. Das ist ein fast metaphysischer Stoff, der bei Kleinen und Kleinsten schon eine ganze Menge Weltwissen voraussetzt. Der Clou der Inszenierung ist es aber nun, diesen Gehalt wirklich kindergerecht aufzuarbeiten und damit einen altersgemäßen Zugang zu realen Problemen zu schaffen.

Unterstützt wird Kurtz dabei von Lukas Noll, der für Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet. Er hat eine phasenweise in Dämmerlicht getauchte bedrückende Hinterhofatmosphäre geschaffen, mit großem Müllcontainer, gestapelten Europaletten und einer Art Himmelsleiter. Das ist ein angemessener Raum, der die Handlung wirkungsvoll illustriert und die materielle Not samt gen Himmel gerichteter Erlösungssehnsucht gekonnt visualisiert. Ergänzt wird dieses Bild durch die Arbeitskleidung, in die Noll die beiden Darsteller steckt. Kurzum, bereits die Bühnenoptik ermöglicht einen gefühlsmäßigen Zugang zur Not der Figuren, den die beiden am Sonntag bestens aufgelegten Schauspieler Mirjam Sommer und Milan Pešl vertiefen.

Sie sind es, die ganz wesentlich dazu beitragen, dass das inhaltlich nicht einfache Stück sich sehr unmittelbar an Kinder richtet. Denn es gelingt den beiden Schauspielern, die sich gerade in der Interaktion als ideale Besetzung erweisen, kindgerecht zu kommunizieren und zu agieren.

Figuren mit Tiefe

Als arbeitslose Reinigungskraft Maja, die auf eine Anstellung als Wolkenputzfrau hofft, wirbelt Sommer durch die Szenerie. Aus ihrer Not heraus fantasiert sie sich ein besseres Leben im Himmel und reißt den ebenfalls arbeitslosen und verzweifelten Robbie mit. Besonders eindrucksvoll an Sommers und Pešls Spiel ist nun zu erleben, dass praktisch alles zwischen ihnen ausgesprochen wird. Es gibt keinerlei zwischenmenschliche Spannung auf nonverbaler Ebene, keinen Konflikt, der nicht besprochen und ausdiskutiert wird. Trotzdem wird das Spiel zu keiner Zeit langweilig. Denn den beiden Schauspielern gelingt es wirklich famos, ihren Figuren Tiefe zu geben durch feines Charakterspiel, nur dass eben wirklich alles verbalisiert wird.

Und genau das ist der kindgerechte Zugang, der Kleinen den Einstieg in die Thematik ermöglicht. Er macht allerdings nicht nur wirklich transparent, dass es nötig ist, sich in der Not gegenseitig auf Erden beizustehen. Vielmehr führen Kurtz und die Seinen gekonnt vor, wie dieses Beistehen und damit Zwischenmenschlichkeit und auch notwendiger Konflikt konstruktiv gestaltet werden können. So lautet die Gießener Antwort auf Becketts Frage nach dem Warten auf Godot schlicht: Gemeinsam sind wir stark im Hier und Jetzt, wenn wir uns auf den anderen einlassen.

Übrigens: Die Preisgabe christlicher Werte durch das Stück muss niemand fürchten, denn Baliani und mit ihm Kurtz rücken den Fokus nur von Jenseitshoffnungen auf die Nächstenliebe – und lassen die am Ende vereinten Maja und Robbie von der Zweisamkeit als „Himmel auf Erden“ sprechen.

Fazit: Kurtz und sein Team schaffen Kinder- und Jugendtheater auf höchstem Niveau, das wirklich wichtige gesellschaftliche Fragen kindgerecht reflektiert. Die hochintelligente und rundum gelungene Inszenierung spricht für sich und ist, nebenbei gesagt, sicher auch für Schulbesuche bestens geeignet. Prädikat: unbedingt ansehen! Weitere Aufführungen am 2. und 16. Februar jeweils um 11 Uhr im TiL.

Stephan Scholz, 14.01.2014, Gießener Anzeiger