Grandioses Solo - Gießener Anzeiger

08.06.2013

PREMIERE Christian Fries zeigt Bernhards „Untergeher“

„Wenn wir dem Besten begegnen, müssen wir aufgeben!“ Zwei junge hoffnungsvolle Pianisten hören in den 50er Jahren während eines Kursus bei Horowitz in Salzburg das Genie Glenn Gould die Goldberg-Variationen von Bach spielen und wissen schon nach den ersten Takten, dass ihre eigene Karriere damit beendet ist. Der Perfektionsanspruch, der Gould in ihren Augen zu erfüllen scheint, macht alles zunichte: Der eine gibt seine Laufbahn als Pianist sofort auf und verkauft seinen Steinway-Flügel, der andere, Wertheimer, begeht 30 Jahre später Selbstmord, indem er sich vor dem Haus seiner Schwester „an einen Baum hängt“.

Um die Bedingungen der (Künstler)-Existenz und die Ursachen des Scheiterns kreist Thomas Bernhards Roman „Der Untergeher“, von dem der Schauspieler und Regisseur Christian Fries eine Bühnenfassung erstellt hat. In einer „öffentlichen Erprobung“, wie er die Premiere am Samstagabend im voll besetzten TiL-Studio bescheiden und ein wenig tiefstapelnd selbst nannte, stellte er den „Untergeher“ vor und bot in etwas über zwei Stunden einen grandiosen Monolog, der ihm und auch dem Publikum ein Höchstmaß an Konzentration abverlangte. „Sie wissen, worauf Sie sich eingelassen haben“, hatte Fries die Zuschauer noch scherzhaft begrüßt.

Auf einem Stuhl auf der schwarzen, leeren Bühne sitzend, angestrahlt von einem Scheinwerfer am Boden, zog er das Premierenpublikum von Anfang an in den durch Rhythmisierung und Wiederholungen gekennzeichneten Bernhard’schen Erzählstrudel hinein. Und natürlich blitzten des Österreichers Gehässigkeiten und der bittere Witz auf, in denen so viel Wahrheit steckt. Wie Fries in die Rolle des Ich-Erzählers schlüpfte, der in stets neuen Anläufen und Variationen (wie Bach bei seinen Goldberg-Variationen) die Geschichte seines Freundes Wertheimer erzählte, das war eine Meisterleistung, die einen gefangen nahm und die zwei Stunden wie im Flug vergehen ließ: intensives, auf die Sprache konzentriertes Theater.

Angemerkt sei noch dies: Es gehört zwar zur Profession eines Schauspielers, Texte, auch schwierige, auswendig zu lernen, dass aber einer wie Christian Fries einen komplexen, durchkomponierten Bernhard’schen Text auf zwei Stunden komprimiert und ihn ohne Partner oder Stichwortgeber so souverän zum Klingen bringt, das ist phänomenal. Bravo!

Thomas Schmitz-Albohn, 03.06.2013, Gießener Anzeiger