Großes Belcanto-Fest in Gießen: Starker Applaus für Cathérine Mivilles Inszenierung der Oper „Die Eroberung von Granada“ - Gießener Anzeiger

26.05.2014

Wie konnte dieses Werk über 160 Jahre lang in irgendwelchen Archiven verstauben? Dabei verfügt die 1850 entstandene Oper „Die Eroberung von Granada“ des hierzulande gänzlich unbekannten spanischen Komponisten Emilio Arrieta (1823 bis 1894) über all jene Zutaten, die ein zugkräftiges, publikumswirksames Stück auszeichnen: blühende Melodien, schwelgerische Arien, Massenszenen mit mitreißenden Chorstücken, historisches Kolorit mit orientalischen Einsprengseln und natürlich eine Liebesgeschichte mit Happy End. Die Raritätensammler des Gießener Stadttheaters um Intendantin Cathérine Miville haben erneut gezeigt, dass sie nicht nur entdeckerfreudig sind, sondern auch eine Nase für gute Stoffe haben. Und die Chefin selbst hat es diesmal in die Hand genommen, das in der Versenkung verschwundene Werk wieder zum Bühnenleben zu erwecken. In ihrer Inszenierung feiert die „Eroberung von Granada“ eine triumphale Rückkehr auf die Bühne.

Überregionales Interesse

Fachpublikum und Kritiker aus allen Teilen Deutschlands waren am Samstagabend zur Premiere angereist, denn die deutsche Erstaufführung eines völlig unbekannten Werks weckt auch immer überregionales Interesse. So stand das Musiktheater in Gießen zum allmählichen Ausklang der Spielzeit wieder einmal im allgemeinen Fokus. Im voll besetzten Haus wurden die hochgesteckten Erwartungen der Besucher schon bald auf das Allerschönste erfüllt. Unter dem ebenso inspirierten wie zupackenden Dirigat Jan Hoffmanns strömten die Melodien in der zweieinhalbstündigen Darbietung dahin, und die exzellenten Gesangssolisten ließen den Abend zu einem großen Belcanto-Fest werden. Opernfreund, was willst du mehr?

Sängerfreundlich

Immer wenn Hoffmann am Dirigentenpult agiert, können sich Chor und Gesangssolisten darauf verlassen, dass sie in ihm einen einfühlsamen, aufmerksamen Partner haben, der sehr viel Verständnis für ihre Belange aufbringt. So zeigte sich auch bei der Premiere, dass das unter seiner Leitung mit Feingefühl und Finesse musizierende Philharmonische Orchester Gießen nie die Bindung zur Bühne verlor und sehr sängerfreundlich spielte. Die Stimme hatte immer Vorrang; niemals geschah es, dass das Orchester den Gesang überdeckte. Hoffmann gab den weit ausholenden Melodienbögen Raum und ließ die Musik frei atmen.

Lukas Noll, der Bühnenbildner des Hauses, hat wiederum eine raffinierte Bühne geschaffen, die im Zusammenspiel mit Video (Christopher Moos) und Licht (Martin Przybilla) vielfältige Stimmungen und Effekte erlaubt und in der sich sowohl maurisches Flair als auch die waffenstarrende Welt der Spanier widerspiegeln.

Im Mittelpunkt steht eine metallische Gitterwand mit den großen Buchstaben des spanischen Königspaares Fernando und Isabella. Auf langen Bildbahnen im Hintergrund sieht man entweder die Befestigungen eines Militärlagers (Spanier) oder Fantasie-Ornamente (Araber). Isabellas Soldaten sehen in ihren silbernen Anzügen und ultracoolen Sonnenbrillen wie das Kommando einer galaktischen Raumflotte aus, und ihre silbernen Schutzschilde fügen sich zu einer bedrohlichen Mauer zusammen. Zu Beginn und nach der Pause zeigt eine Videoeinspielung eine Hand, die einen Granatapfel zu Brei zerquetscht. Nun haben Granatäpfel zwar nichts mit Granada zu tun, aber das Bild hat dennoch Symbolkraft: Das Innere der Frucht ist blutrot wie der Tod auf dem Schlachtfeld und schmeckt süß wie die Liebe.

Die Regisseurin passt sich dem Atmen der Musik an, vermeidet überflüssigen Schnickschnack und hektisches Gezappel, nutzt die Möglichkeiten der Drehbühne geschickt für die Massenauftritte und vertraut ganz auf die Wirkung der ruhigen Bilder, die die Darsteller in den Blickpunkt rücken. Durch den strengen Stilwillen und die Beschränkung auf das Wesentliche tritt die Handlung einleuchtend und klar hervor – und das ist bei einer Oper, die kein Mensch kennt, schon eine ganze Menge.

Vornehm und schön, jeder Zoll eine Königin, das ist Giuseppina Piunti (Mezzosopran), die die Rolle der Isabella mit ungeheurer Ausdruckskraft und gesanglicher Intensität gestaltet und zudem die Glaubenszuversicht und das lodernde Feuer des Glaubens ihrer Figur in die packende Darstellung einfließen lässt. Ihre Töne glühen, wenn sie auf dem Objekt ihrer Begierde, dem Alhambra-Thron, Platz nimmt und wenn sie sich ihrer Vision von den Eroberungen des Kolumbus hingibt – eine expressive Vorstellung.

Liebreiz, Anmut und Leichtigkeit strahlt die Sopranistin Naroa Intxausti als Zulema aus. In der Rolle der Liebenden gibt sie eine bravouröse Vorstellung und scheint im Verlauf des Abends mehr und mehr über sich hinauszuwachsen. Geschmeidiger Gesang, mühelose Koloraturen und innige Momente stechen bei ihr gleichsam hervor.

Herzzerreißend

Belcanto, das bedeutet Reinheit des Tons, strömendes Melos und höchste Kunst der Verzierung. All dies wirft der Tenor Leonardo Ferrando als Gonzalo in die Waagschale. Er verfügt über eine feine, strahlende Höhe, eine klare Linienführung, über Schmelz und viel Gefühl. Wenn er in seiner herzzerreißenden Arie seinen Engel, also seine Geliebte Zulema, besingt, dann ist das eine hochemotionale, glutvolle Angelegenheit.

Kraftvoll, reich an Nuancen und stark im Ausdruck präsentiert sich auch der Bassbariton Calin Valentin Cozma in der Rolle des in seinen Vatergefühlen hin- und hergerissenen Muley-Hassem. Ein Kerl voll Saft und Kraft, der sich der Stimme als expressives Instrument zu bedienen versteht, ist Bariton Andrian Gans als Gonzalos Freund Lara. In weiteren Rollen: Tomi Wendt als maurischer König Boabdil, Michaela Wehrum als Almeraya und Aleksey Ivanov als Alamar. Als Solistin eines kleinen, bezaubernden Flötenkonzerts absolviert die als Maurin gekleidete Carol Brown einen virtuosen Auftritt.

Der 40-köpfige Chor, ohne den die ganze Unternehmung undenkbar wäre, darf in dieser Aufzählung natürlich nicht vergessen werden. Hier hat Chordirektor Jan Hoffmann wieder ganze Arbeit geleistet, denn hier passt alles zusammen: Rhythmus, Schwung, Dynamik und Stimmung. So sah es auch das Premierenpublikum, das allen Beteiligten am Ende mit starkem Beifall dankte. Wie heißt es doch in einer Arie Zulemas: „Wer jetzt nicht bewegt ist, hat keine Seele!“

Von Thomas Schmitz-Albohn, 26.05.2014, Gießener Anzeiger