Jubel im Stadttheater für »Idomeneo« - Gießener Allgemeine Zeitung

20.01.2014

Götterdämmerung: Gießens Musentempel zeigt Mozarts Oper in der Münchner Urfassung von 1781. Minutenlanger Applaus für Sänger und Orchester.


Die Götter meinen es nicht gut mit uns. Ständig verlangen sie nach Heldentaten und Opfergaben. Der Mensch, von Natur aus bemüht, rackert sich ab im Geiste seiner Auftraggeber. Kreta, die Wiege der europäischen Kultur, ist der rechte Schauplatz, um menschliche Qual und Zerrissenheit zu zeigen, aber auch, um dem Zorn dieser unsichtbaren Befehlshaber die Stirn zu bieten. In Gießen ist diese Demonstration am Samstagabend gelungen.

Mit minutenlangem Jubel für Musik und Darsteller feiert das Publikum im Stadttheater die Premiere der Münchner »Idomeneo«-
Urfassung aus dem Jahr 1781 von Wolfgang Amadeus Mozart. Vereinzelte Buhrufe muss Regisseur und Bühnenbildner Nigel Lowery hinnehmen, der seine Inszenierung während der kompletten Handlung hinter einen transparenten schwarzen Vorhang verbannt – im »Freischütz« vor zwei Jahren an gleicher Stelle legte Lowery diesen Schleier um die Wolfsschluchtszene.

Der Vorhang lässt die »Idomeneo«-Bühne wirken wie in schummriges Licht getaucht, als wäre am Fernseher der Kontrastregler auf null gedreht. Der optische Trick passt in Lowerys Konzept: Er harmoniert mit seinen beiden prächtigen Prospekten. Sie sind in Erdtönen gehalten – einen, den mit der Vase und der Glühlampe, hat er zweimal gemalt, einmal auch in einer schwarzen Version, die sich wie ein Traumambiente um die Geschichte legt.

Kostümbildnerin Bettina Munzer, mit Lowery schon beim »Freischütz« ein Team, setzt den Priestern übergroße Totemköpfe aufs Haupt und lässt sie wie raunende Islamisten verstörend und bedrohlich wirken. Die Protagonisten dagegen sind in unschuldiges Weiß gehüllt. Das Seeungeheuer des zweiten Akts, das Kreta ins Verderben zu reißen droht, wird per Videofilm auf den transparenten Vorhang projiziert: herumkrabbelnde Schmeißfliegen.

Um die eindimensionale Handlung aufzupeppen, verdeutlicht Lowery das grausame Ritual des Meuchelns im Gottesauftrag mithilfe einiger Probeopfer. Sie werden in einem aus dem Bühnenboden aufsteigenden riesigen Buch – die Bibel, der Koran, ein Band mit Geheimrezepten der englischen Küche? – vergast oder gekocht. Die Rauchwolke, die beim Tod der Delinquenten aufsteigt, lässt Interpretationen zu.

Auch die Solisten stehen unter Dampf. Bernhard Berchtold überzeugt als Idomeneo sängerisch und mimisch. Countertenor Kangmin Justin Kim ist ein zerrissener, heldenhafter Idamante – die Kopfstimme der Neuentdeckung am Countertenorhimmel leuchtet bis in die letzte Bank. Haussopranistin Naroa Intxausti gibt eine bezaubernde Ilia, ihr Gesang perlt betörend schön. Kirsten Blaise als eifersüchtige Elettra bietet den perfiden Gegenpol zur Ilia. Andreas Karasiak als Arbace setzt auf die hohe Kunst der Koloraturen, während sich Christian Richter als Gran Sacerdote und Calin Valentin Cozma als die Stimme aus dem Off solide ins Gesamtkonstrukt fügen.

Im Graben spielt das Philharmonische Orchester unter der Leitung von Generalmusikdirektor Michael Hofstetter befreit auf. Dem Dirigenten gelingt es, den Musikern eine eigene, in Gießen zuvor nicht gehörte intensive Tonsprache abzuverlangen, die so reich und stimmig erscheint, dass selbst die tröpfelnden Rezitative und nicht enden wollenden Koloraturen in den Arien wie beseelt erklingen. Hofstetter verzichtet auf die Balletteinlage am Ende der Urfassung. Sein Mozart ertönt eine Spur dramatischer als die Version seines Vorbilds Nikolaus Harnoncourt in Zürich. Der einstige Schüler übertrumpft hier den Altmeister.

Heimlicher Star des Abends ist der Chor und Extrachor des Stadttheaters. Neun Titel gilt es, zu bewältigen. Jan Hoffmann hat seine Sänger perfekt ab- und eingestimmt. So wird dieser »Idomeneo« zu einer musikalisch runden Sache.

Leider verschießt Regisseur Lowery sein Kreativpulver bereits im ersten Akt mitsamt der niedlichen Einlage eines Handpuppenspielers (Cozma), der in Zauberkünstlermanier die eigene Puppe im Jungfrauenzersägungspappkarton opfert.

Im zweiten und dritten Durchgang wärmt Lowery die Einfälle nur noch einmal auf, was in der fast dreistündigen Oper für Längen sorgt. Im Showdown konterkariert der Engländer seine Inszenierung und holt den Chor in Straßenkleidung auf die Bühne, nachdem er zuvor einen Videofilm über die Sänger zeigt, gedreht in den Gängen des Stadttheaters während der Probenzeit.

Der Deus ex machina, gern genutzt, wenn der Textautor nicht weiter weiß, setzt dem Spuk ein Ende und befreit Idomeneo von seinem Gelübde. Im Schlussbild ist die Menschheit glücklich: Sie hat den grausamen Götterwillen besiegt und präsentiert – auf Kreta, wie gesagt, der Wiege der Kultur – ein Heer an frisch gezeugten Puppenbabys. Schlussakkord, Vorhang (diesmal der, durch den man nicht hindurchschauen kann).

Manfred Merz, 20.01.2014, Gießener Allgemeine Zeitung