Kurzweiliger Theaterabend um Identitätsverlust und komplizierte Physik: Dirk Schulz betont in „Nullen und Einsen“ das komische Element - Gießener Anzeiger

05.05.2014

Ein Mann mit einer Schere im Bauch begegnet einem anderen. Die Wunde blutet, und er fragt: „Haben Sie mal ein Pflaster?“ Der andere schaut hin und geht wortlos weg. In einer späteren Szene trifft man den Mann mit der Schere im Bauch wieder. Diesmal bemerkt der Passant: „Sie tropfen ja!“ – Darauf der Verletzte: „Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Scheiß!“

Dieser Theaterabend hat es in sich und lässt sich nicht leicht erklären: In extrem kurzen, clipartigen Szenen wie aus dem Comedy-TV blitzen Momente aus unserem von Computern beherrschten Alltag auf. Meist sind es kleine Beziehungsgeschichten, die zunächst lose zusammengestellt scheinen, jedoch in ihrer Gesamtheit ein ausgeklügeltes Gefüge bilden, in dem das eine mit dem anderen sehr wohl zu tun hat. In dem Schauspiel „Nullen und Einsen“ des erfolgreichen, 36-jährigen Dramatikers Philipp Löhle geht es um Identitätsverlust, um Identitätsdiebstahl und darum, dass kaum einer mit sich und seinem Leben zufrieden ist und gerne ein anderer wäre. Aber es geht auch um mathematische und physikalische Versuche unser Leben zu deuten und um Fälle, in denen die Gesetze von Logik und Kausalität außer Kraft gesetzt sind. Und je mehr Erklärungsversuche in dieser Richtung unternommen werden, desto unklarer und unübersichtlicher wird es.

Gute Unterhaltung

Klingt alles ziemlich kompliziert, ist es aber in der Inszenierung des Gastregisseurs Dirk Schulz zum Glück nicht. Im Gegenteil, ihm und dem bestens aufgelegten Ensemble ist ein munterer, kurzweiliger Theaterabend gelungen, bei dem sich das Premierenpublikum am Samstag über zwei Stunden lang gut unterhalten fühlte. Am Ende gab es verdient herzlichen Applaus für alle Beteiligten.

Da Moritz Krehmer, die Hauptfigur des Stücks, in einem Großraumbüro als Zahlenanalyst mit lauter Computern arbeitet, würde man ein solches Ambiente vielleicht auch auf der Bühne erwarten. Doch nichts davon bei Bernhard Niechotz, dessen ebenso prägnantes wie imposantes Bühnenbild sich nicht im Oberflächlichen verliert. Der schwarze Bühnenraum ist am Boden mit einem weißen Netzmuster überzogen, das die physikalische Krümmung von Raum und Zeit andeutet. Ein heruntergelassener Spiegel in der Mitte verstärkt den Eindruck der verzerrten Wahrnehmung. Mit optischer Täuschung spielt Niechotz auch, wenn er in Strichzeichnung zwei Häuser zeigt, die bei entsprechender Beleuchtung (Licht: Kati Moritz) dreidimensional wirken. Die Fläche der Häuser dient zudem als Projektionsfläche für Videoeinspielungen, die der Regisseur sehr geschickt in die Szenen integriert. Diese Videosequenzen, die wohldosiert eingesetzt und keineswegs überstrapaziert werden, unterstreichen das komische Element.

Überhaupt beleuchtet Schulz die Verirrungen des Menschen im digitalen Dschungel mit feinem Humor und schafft mit einem einfallsreichen Wechsel der Darstellungsmittel lebendiges, belebendes Theater – hier Slapstick und Situationskomik, da Schattenspiel und Video. Bei alledem legt er – hörbar! – großen Wert auf gute Sprachbehandlung.

Im raschen Wechsel der Szenen entfaltet sich ein temporeiches Spiel, dem die Zuschauer amüsiert folgen. „Wir sind nur da, damit die Tastatur nicht alleine ist“, sagt der Computerfreak Moritz, den Lukas Goldbach treffend als Außenseiter spielt, der seinen Mitmenschen gehörig auf die Nerven geht. Ausgerechnet ihm wird die Identität gestohlen, so dass zeitweise zwei, ja drei Moritze herumlaufen. Mit zerzaustem Haar sieht er aus wie Pumuckel und ist auch genauso anstrengend.

Neue Existenz?

Kein Wunder, dass seine Kollegin Klara (von Anne-Elise Minetti mit Energie und erheblichem Realitätssinn ausgestattet) von ihm nur gelangweilt ist und sich bald mit einem anderen vergnügt. Das ist der Rettungssanitäter Jonas, der raus aus dem Trott möchte und dem in der glaubhaften Verkörperung durch Pascal Thomas die Unzufriedenheit ins Gesicht geschrieben steht. Ein Ausweg könnte für ihn die neue Existenz als Moritz sein. Sein Kollege Beck scheint dagegen in sich selbst zu ruhen. Vincenz Türpe spielt ihn als irrekomischen Typ, der sich mit Hardrock die Ohren volldröhnt.

Dann ist da die Episode mit dem Pärchen Jule (Rula Badeen) und Tom (Milan Pesl). Er fällt eines Tages tot um, ist aber am Ende wieder quicklebendig. Sie sitzt nach einem Unfall im Rollstuhl, steht aber am Ende wieder auf. Zwischendurch hat sie als Gelähmte eine Affäre mit dem dritten Moritz. Das ist der zum Penner herabgesunkene Professor, der dem echten Moritz eine mathematische Formel verkauft. Roman Kurtz lässt die schusselige Vergesslichkeit dieses Mannes glaubhaft werden. Harald Pfeiffer verleiht dem Konzernchef, der Mordaufträge erteilt, aber Angst vor seiner Frau hat, Kontur, und Rainer Hustedt läuft als lächerlicher Killer mit der Schere im Bauch herum.

Weitere Gelegenheiten, die Gesetze von Raum, Zeit und Kausalität hinter sich zu lassen, sind am 17., 25. Mai. 5., 29. Juni und 12. Juli jeweils um 19.30 Uhr.

Von Thomas Schmitz-Albohn, 05.05.2014, Gießener Anzeiger