Mitleid mit Unschuldigen - „Ab heute heißt du Sara“ im Stadttheater Gießen - Wetzlarer Neue Zeitung

07.11.2013

Frühjahr 1945 in Deutschland. Zwar sind die Barbareien des nationalsozialistischen Regimes vorüber. Zwar hat Inge Deutschkron überlebt.


Doch ihre Welt gibt es nicht mehr: Freunde, die wie sie jüdisch verwurzelt waren, wurden ermordet, die Lebensleistung der Familie ist zerstört. Wie konnte es so weit kommen? Das ist die zentrale Frage, die die Intendantin des Gießener Stadttheaters, Cathérine Miville, mit ihrer Inszenierung des Stücks „Ab heute heißt du Sara“ thematisiert. Am Sonntag hatte das Schauspiel von Volker Ludwig und Detlef Michel mit Musik von Hansgeorg Koch, das auf dem autobiografischen Bericht „Ich trug den gelben Stern“ von Inge Deutschkron basiert, Premiere.

Ganz großes Theater, das die Radikalisierung der deutschen Gesellschaft im Dritten Reich aus Perspektive der Opfer auf die Bühne bringt. Miville und die ihren, darunter der musikalische Leiter Martin Spahr, berühren mit einem Gesamtkunstwerk. Ohne plakative moralische Essenzen zu destillieren und auf konstant hohem künstlerischem Niveau gelingt es dem Ensemble, dem Zuschauer einen empathischen Zugang zu Inge Deutschkron und ihrem Umfeld zu verschaffen.


Man leidet mit diesen von weiten Teilen der deutschen Gesellschaft um Stich gelassenen unschuldigen Menschen. Hut ab vor dieser künstlerischen Leistung, an der Lukas Noll mit einem schlicht als genial zu bezeichnenden Bühnenbild großen Anteil hat.


Allen voran im bestens aufgelegten Schauspielensemble: Mirjam Sommer als Inge Deutschkron. Authentisch gelingt es Sommer, das Leiden der jungen Frau am Ausschluss aus der Gesellschaft und den nationalsozialistischen Grausamkeiten auf die Bühne zu bringen. Das elfköpfige Ensemble, darunter Carolin Weber als Mutter Ella Deutschkron, überzeugte in wechselnden Rollen mit bestechender Leistung. Musikalisch begleitet von der Live-Band um Spahr, Lukas Rauber und Christoph Czech demonstrierten die Schauspieler auch ihre Gesangsqualitäten.

Stephan Scholz, Wetzlarer Neue Zeitung, 05. November 2013