Spanische Opernausgrabung im Stadttheater bejubelt - Gießener Allgemeine Zeitung

26.05.2014

Festival der schönen Stimmen: »Die Eroberung von Granada« des Komponisten Emilio Arrieta wird im Großen Haus zu einem vollen Erfolg.

Lukas Noll ist ein kluger Mann. Der Bühnenbildner des Gießener Stadttheaters hat erst gar nicht versucht, die Alhambra nachzubilden, jene Burg auf einem Hügel Granadas, die auf der iberischen Halbinsel und darüber hinaus als schönste Hinterlassenschaft des maurischen Stils der islamischen Kunst gilt. Noll hat die Drehbühne mit einer platinkühlen Metallkonstruktion versehen, deren hohe Mittelwand von lateinischen Worten aus der Grabinschrift Königin Isabellas I. in Form von Aussparungen durchbrochen wird; Schrägen fungieren als Bühnenauf- und -abgänge und sind mal diagonal, mal frontal oder von der Seite zu sehen; im Hintergrund gibt’s dazu wechselnde Leuchtbahnen mit kunstvollen Wandverzierungen – schon sitzt das Publikum mitten in einem atmosphärisch dichten Kunstraum, der mithilfe einer halben Bühnendrehung die Alhambra der Mauren, das Heereslager der Christen oder ein Verlies darstellt.

Noll präsentiert moderne, aber auch traditionell wirkende Kostüme, die es dem Zuschauer leicht machen, die Akteure zuzuordnen, sowie einen Thron, der die Alhambra symbolisiert – fertig ist das Areal mit seinem Konfliktreichtum des späten 15. Jahrhunderts.

Der Kampf um die legendäre Burg, deren Besuch heute bei jedem Andalusienbesuch zum Pflichtprogramm gehört, dient der 1850 uraufgeführten Belcanto-Oper »Die Eroberung von Granada« aus der Feder des bei uns unbekannten spanischen Komponisten Emilio Arrieta aufgrund der vielen Gesinnungswechsel seiner Akteure lediglich als Beiwerk für eine Liebesgeschichte: Ritter Gonzalo, aus dem die Alhambra umlagernden Tross der Christen, und Zulema, die Schwester des maurischen Emirs, wollen ein Paar werden.

Gonzalo ist so eine Art Superman, der unvermittelt überall dort auftaucht, wo ein Normalsterblicher nicht so einfach hingelangt, etwa in die Gemächer der Alhambra oder ins Verlies, in das seine Liebste eingesperrt ist. Am Ende wird alles gut. Die Mauren ziehen ab, Königin Isabella zieht ein (in die Alhambra) und Gonzalo zieht um (zu Zulema). Vorhang. Minutenlanger Jubel im nahezu ausverkauften Großen Haus.

Den Krieg thematisiert die Regisseurin, Intendantin Cathérine Miville, in dieser Ausgrabungsoper (das Werk wurde zuletzt nach 150-jährigem Winterschlaf 2006 in Spanien konzertant gegeben) nur am Rande, was nach der deutschen Erstaufführung am Samstagabend den Unmut einiger Zuschauer nach sich zog. Miville hat bewusst zurückhaltend inszeniert, um den Arien Raum zu gewähren. Gediegene Personenführung mit langen Pausen und ein abwechslungsreiches Licht (Christopher Moos) sind ihre Zutaten. Hinzu kommen Videoeinspielungen, die zu Beginn und während des Stücks zeigen wie eine Männerfaust einen Granatapfel zerquetscht, als Sinnbild des Krieges und des Leids. Der Granatapfel, in Granada heimisch und auf dem dortigen Wappen verewigt, steht für Fruchtbarkeit, Macht und Tod, weshalb Christenkrieger Lara zu Beginn einen solchen Apfel in Händen hält.

Das Libretto von Temistocle Solera (er hat Verdis »Nabucco« in Worte gekleidet) gibt nicht viel mehr her als schablonenhaften Kriegsdisput, und die Musik will davon so gar nichts wissen. Arrietas Partitur tönt putzig bis beschwingt, ist aber an allen ernsten Stellen ernst genug. Letztlich fungiert die Musik mit dem orientalisch wirkenden Alhambrismus und seiner andalusischen Kadenz, der melismenreichen Melodienführung, einem Siebenvierteltakt und den Kontrasten von Dur und Moll nur als Fundament für den eigentlichen Held dieser Oper: die Gesangspartien. Sie stecken voller Chuzpe und lassen wenig Raum für Blut und Kampf.

Der musikalische Leiter, Chordirektor und Kapellmeister Jan Hoffmann, hat ganze Arbeit geleistet. Der tonangebende Chor und Extrachor des Stadttheaters ist bis aufs i-Tüpfelchen genau abgestimmt und allein ein Grund, diese Oper zu besuchen. Das Orchester hat mit der eingängigen Partitur und seiner holzschnittartigen Ouvertüre keinerlei Mühe. Querflötistin Carol Brown spielt auf der Bühne ein betörendes Solo.

Die Solisten sind ein Traum. Allen voran die Sopranistin des Hauses, Naroa Intxausti, in der Rolle der Zulema. In den Forte-Passagen gewohnt spitz formulierend, liefert die junge Sängerin im dritten Akt ihr musikalisches Meisterstück ab. Mit so viel Anmut, Emotion und Grazie hat noch nie zuvor jemand in einem Kerker gesungen. Leonardo Ferrando als ihr Herzbube Gonzalo ist mit seinem glänzenden, stets fein abgestuften und schmelzigen Tenor eine kongeniale Ergänzung. Ihre Duette strahlen, pulsieren, gehen unter die Haut.

Einer Königin würdig sind Stimme und Erscheinung von Giuseppina Piunti, die als Isabella in einer eigenen Liga singt. Fest, sicher und voller Klangschönheit bezaubert ihr kraftvoller, erwachsener Mezzosopran als weiteres Aushängeschild dieser Oper. Dazu gesellt sich Heldenbariton Adrian Gans (Lara), der in seiner kleinen Partie ebenso zu überzeugen weiß wie der starke Calin-Valentin Cozma als Zulemas Vater Muley-Hassam. Alle übrigen Sänger reihen sich in das Gesamtbild ein. Mit diesem Ensemble ist dem Theater wieder einmal ein Coup gelungen. Unbedingt hingehen!

Manfred Merz, 26.05.2014, Gießener Allgemeine Zeitung