Spießeridylle mit entfesselten Wutbürgern - Gießener Anzeiger

17.03.2014

Regisseur Thomas Goritzki zeigt Ayckbourns „Bürgerwehr“ in temporeicher Inszenierung / Deutlicher Abfall im zweiten Teil

Wehe, wenn sie losgelassen werden! Wehe, wenn der entfesselte Wutbürger das Kommando übernimmt! Welche abstrusen Formen das menschliche Zusammenleben annimmt, wenn kleinkarierte Sicherheitsfanatiker ihren Vorstellungen freien Lauf lassen, zeigt die bissige Komödie „Bürgerwehr“ des englischen Altmeisters Alan Ayckbourn (Jahrgang 1939). Natürlich darf über die Verirrungen und aberwitzigen Spießerträume gelacht werden. Dafür sorgt die schwungvolle und temporeiche Inszenierung von Thomas Goritzki, der das Stück mit einem munter agierenden Ensemble auf die Stadttheaterbühne bringt.

Bei der Premiere am Samstagabend im voll besetzten Haus gab es freundlichen Applaus für alle Beteiligten. Aber nach zweieinhalb Stunden war spürbar endgültig die Luft raus, denn so rasant und originell diese Satire über die Ängste der Mittelschicht beginnt, so sehr schwächelt sie im zweiten Teil, verliert an Spannung und läuft sich mangels Ideen tot. Goritzki und das Ensemble halten nach besten Kräften dagegen, so dass das Publikum alles in allem einen amüsanten Theaterabend erlebt.

Wie in einem Laborversuch führt uns das Stück – und damit auch die Inszenierung – eine abgeschottete Spießerwelt vor: Die Geschwister Hilda und Martin Massie sind gerade in die wohlanständige Wohngegend Bluebell Hill gezogen. Ihre Gartenzwergidylle wäre perfekt, gäbe es da nicht die Problemsiedlung in unmittelbarer Nachbarschaft, aus der nichts Gutes zu erwarten ist. Nach einem lächerlichen Zwischenfall mit einem vermeintlichen Eindringling aus der Siedlung beschließen die Wutbürger von Bluebell Hill die Gründung einer Bürgerwehr. Zug um Zug verwandelt sich ihr Viertel in einen Hochsicherheitstrakt. Sie ziehen einen hohen Zaun, geben Kennkarten für die Bewohner aus, schnüffeln im Leben ihrer Nachbarn herum und denken über Leibesvisitationen nach.

Bühnenbildner Heiko Mönnich hat auf die Drehbühne eine Wohninsel mit Parkettfußboden und einer roten Sitzgruppe gebaut, um die sich im Hintergrund drehbare Wandteile säumen. Eines dieser Teile schmückt eine scheußlich gemusterte Tapete. Man hört Vogelgezwitscher und Gute-Laune-Musik (Volker Seidler) – noch ist die Spießerwelt in Ordnung. Hier empfängt das Geschwisterpaar die Nachbarn zum Kennenlernen, und hier trifft man sich bald darauf zur Gründung der Bürgerwehr.

Das rote Sofa spielt bei Goritzki eine wichtige Rolle. Wenn nämlich in der Versammlung die Reden in einem allgemeinen Wirrwarr durcheinander gehen und die Worte und Satzfetzen nur so hin und her fliegen, dann macht er das in seiner Inszenierung sichtbar, indem die Personen im Sitzen mal nach vorne rutschen, mal nach hinten kippen und wie bei einer „Reise nach Jerusalem“ ständig die Plätze tauschen. So gesellt sich zum Wortwitz reichlich Situationskomik, aber gleichzeitig achtet der Regisseur immer darauf, dass die Slapsticks nicht überhand nehmen und die Situation nicht kippt.

Auf dem roten Sofa muss sich auch der Hausherr Martin den Verführungskünsten der attraktiven Nachbarin Amy geschlagen geben, die ihn im Handumdrehen da hat, wo sie ihn haben will. Die aufmüpfige junge Frau mit Lockenkopf wird von Simone Kabst mit gehörigem Realitätssinn ausgestattet. Sie ist offensichtlich eine der wenigen in der Wohngegend, die noch recht bei Verstand ist und sich nicht der Bürgerwehr beugt.

Mit großem Elan macht Milan Pesl die Wandlung Martins vom unauffälligen Durchschnittsbürger zum obersten Aufpasser-Funktionär des Wohnviertels deutlich. Er strahlt Sendungsbewusstsein aus, und so, wie er in seine Rede Heilsversprechungen mischt, trägt er Züge eines evangelikalen Predigers, der die Massen beglücken möchte.

Gottergeben, sittenstreng, moralisch – diesen Anschein vermittelt Carolin Weber permanent als dessen Schwester Hilda. Doch sie spielt nur nach außen die Sanftmütige. In Wahrheit hält sie die Fäden in der Hand und lenkt ihren Bruder. Und mit ihrer Sittenstrenge ist es auch nicht weit her.

Immer ein bisschen weinerlich und unsicher verkörpert Rainer Hustedt den Hobbybastler Gareth, einen Waschlappen von Mann. Aber er ist auch ein Perversling, der einen Pranger für die Verkehrsinsel konstruiert hat und darüber trauert, dass er so wenig benutzt wird. Harald Pfeiffer gibt einen kernigen Law-and-Order-Mann, für den sich die Probleme am besten mit einem Baseballschläger lösen lassen; immer in seinem Schlepptau Petra Soltau als Klatschtante Dorothy. Vincenz Türpe spielt den cholerisch aufbrausenden, gewalttätigen Luther, der seine Frau Magda schlägt. Und Mirjam Sommer stellt diese gedemütigte, unterdrückte Frau als unscheinbare, graue Maus dar. Zu den eindringlichsten Momenten der Aufführung zählt, wie sie ihre Misshandlungen stockend und nur mit größter Überwindung schildert.

 

Thomas Schmitz-Albohn, 17.03.2014, Gießener Anzeiger