Temporeiches Theater, das alle Sinne anspricht - Gießener Anzeiger

05.11.2013

Cathérine Miville inszeniert „Ab heute heißt du Sara“ in grandiosem Bühnenbild

Ein dunkler Hinterhof in Berlin: Endlose Reihen von Fensterfluchten als fein gezeichnetes Bühnenbild, im Vordergrund schließen und öffnen sich Türen wie die Dreh- und Angelpunkte der folgenden Szenen. Um alles ist dreidimensional ein großer zerbrochener Davidsstern gelegt. Gespielt wird das Theaterstück „Ab heute heißt du Sara“. In der Inszenierung von Catherine Miville ist es am Stadttheater Gießen im geradezu grandiosen Bühnenbild von Lukas Noll zu sehen. Im Mittelpunkt brilliert die wunderbare Schauspielerin Mirjam Sommer mit einer berührenden Darstellung als Sara. Begeisterter Applaus im ausverkauften Haus bei der Premiere nach einer knapp dreistündigen Aufführung.

In wenigen Tagen, am 9. November, jährt sich zum 75. Mal die Reichspogromnacht, jene Nacht, als die Nazis Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnhäuser in Brand setzten. Der Beginn des Schreckens: Millionen von Juden wurden aus ihren Wohnungen abgeholt, in Vernichtungslager deportiert und ermordet. Einige konnten zuvor noch rechtzeitig ins Ausland flüchten, ganz wenigen Ausnahmen gelang es, die Nazizeit in Berlin zu überleben. Davon erzählt die Schriftstellerin Inge Deutschkron in ihrem Lebensbericht „Ich trug den gelben Stern“, der vom Autorenteam Volker Ludwig und Detlef Michel aufgegriffen und unter dem Titel „Ab heute heißt du Sara“ für das Grips-Theater in Berlin bearbeitet wurde. Die Musik mit Anklängen an das Brecht-Weil-Theater schrieb Hansgeorg Koch.

Komik und Wortwitz

Ein heikles, schwieriges Thema, vor allem wenn man es Schülern und jungen Erwachsenen nahe bringen will, die bekanntermaßen das Zielpublikum des Grips-Theaters und diesmal auch des Stadttheaters sind. Die Theatermacher, (Grips-Theater-Chef Volker Ludwig war übrigens bei der Gießener Premiere anwesend) entschieden sich für ein temporeiches Musiktheater, das alle Sinne anspricht, und es auch an Komik und Wortwitz nicht mangeln lässt.

So haben außer den visuellen Eindrücken des Bühnenbilds und der eingeblendeten Lichteffekte und Schriften auch die Musik und choreografische Elemente einen besonders wichtigen Part. Emotionale Livemusik und die eingängigen „Zeitlosen Lieder“ unter der musikalischen Leitung von Martin Spahr machen den Abend zu einem packenden Theatererlebnis, der auch von seinen Bezügen zur Gegenwart lebt.

Eigentlich beginnt alles ganz normal. Ella Deutschkron (Carolin Weber) sitzt mit ihrer Tochter Inge im Wohnzimmer. Das Mädchen mit den blonden Zöpfen will in den Hof zum Spielen. Die Mutter verbietet es: „Mein Kind, du bist Jüdin.“ Sie ermuntert die Tochter einerseits: „Lass dir nichts gefallen, wenn dich jemand angreifen will.“ Gleichzeitig ermahnt sie die Tochter zur Vorsicht. Lieber in der Wohnung bleiben.

Doch das lebenshungrige Mädchen geht zunächst keinem Streit aus dem Weg. Der Nachbarstochter reißt sie die Nazi-Fahne aus der Hand, derweil ihr sozialdemokratischer Vater mit Freunden bei einem Bier über die Zukunft schwadroniert: „Der Spuk ist in ein paar Wochen vorbei“. So tragisch die Fehleinschätzung auch ist: Der „Chor der Sozialdemokraten“ ist ganz köstlich anzuhören und im Übrigen auch anzusehen (Choreografie Anthony Taylor).

Der Vater (Rainer Hustedt) darf nach England ausreisen, während Frau und Tochter zurückbleiben müssen. Die Restriktionen verschärfen sich schnell, sind anhand einzelner Szenen im Stück hautnah zu verfolgen.

Und hier kommt der einzige Einwand an dem Stück: Weniger wäre vielleicht mehr gewesen. Eine dreistündige Aufführung ist ein gewaltiges Programm, vor allem für ein Schülerpublikum. Der Schrecken bleibt in seiner Gänze nicht darstellbar. So furchtbar geht es weiter: Im April 1933 werden „nichtarische“ Beamte aus dem Staatsdienst entlassen, der Zugang zu Schulen und Hochschulen für „Nichtarier“ eingeschränkt. 1937 beginnt die Arisierung der Wirtschaft, jüdische Geschäfte werden beschlagnahmt. 1939 ist eine Ausreise für Juden nur möglich, wenn sie dem Deutschen Reich ihr Vermögen „hinterlassen“; Namenszusätze wir „Sara“ oder „Israel“ werden eingeführt.

Doch Inges Leben ist nicht nur von Diskriminierung und Ausgrenzung geprägt, sondern dem lebhaften Mädchen gelingt es immer wieder Momente von Ausgelassenheit zu finden, selbst als sie mit ihrer Mutter untertauchen muss. Freunde und mitfühlende Berliner bieten Essen, Schlafgelegenheiten und gefälschte Dokumente. Eine herausragende Rolle spielt her der Bürstenfabrikant Otto Weidt (Roman Kurtz), der Inge eine Anstellung im Büro gibt. Um seine Blindenwerkstatt herum kann sich jahrelang ein Netzwerk von Helfern am Leben erhalten, und in diesem Umkreis ist es den Verfolgten auch möglich, Momente von Fröhlichkeit oder gar Glück zu erleben.

Hautnah

Die engagierte Theatertruppe bringt die Lebensgeschichte von Inge den Zuschauern hautnah und lebendig nahe. Alle Beteiligten sind (auch in mehrfachen Rollen) mit Herzblut bei der Sache. Und wie hinter den Kulissen zu erfahren war, hat sich das Schauspielensemble vor allem darüber gefreut, wieder einmal in einer Produktion singen zu können – was alle mit Bravour vorführen. Diesmal am Erfolg beteiligt: Kyra Lippler, Rainer Hustedt, Roman Kurtz, Milan Pešl, Anne-Elise Minetti, Harald Pfeiffer, Pascal Thomas, Lukas Goldbach und Petra Soltau. In der Live-Band spielen Martin Spahr (Keyboard), Christoph Czech (Keyboard Schlagzeug), Lukas Rauber (Keyboard, Trompete).

Von Ursula Hahn-Grimm, 05.11.2013, Gießener Anzeiger